Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Wahre Spiel 01 - Der Königszug

Das Wahre Spiel 01 - Der Königszug

Titel: Das Wahre Spiel 01 - Der Königszug
Autoren: Sheri S. Tepper
Vom Netzwerk:
bei der Bewältigung des Spiels helfen oder dich hindern. Dieser Aufgabe kannst du dich nicht entziehen. Du steckst mittendrin. Ist dir das klar?«
    Ich nickte und erwiderte: »Das ist uns allen klar, Spielmeister.«
    »Aber erfaßt du auch die Tragweite des Ganzen? Wie sich deine Identität bildet, während du spielst, wie dein Stil unverwechselbar wird, wie sich deine eigene Methode herausschält? Langsam werden die Lehrer – und du auch – erkennen, was du bist: Prinz oder Magier, Träger oder Tragamor, Dämon oder Doyen, welche Figur aus der langen Liste du sein wirst. Du mußt einer von ihnen werden, oder du kannst gleich hinunter in die Stadt gehen und als Lehrling in einem der Läden anfangen, wie es manche Schüler tun, die es nicht geschafft haben.«
    »Man sagt, es sei angeboren«, warf ich ein. Ich wollte seinen Vortrag aufhalten, der mir Schuldgefühle einflößte. »Karl sagt, daß er Doyen wird, weil Vater und Großvater ebenfalls Doyen waren. Daß es ihm angeboren ist.«
    »Was Karl sagt oder denkt, ist für dich unwichtig. Wichtiger ist, was aus dir wird oder was du bist.« Er ergriff meine Schultern und drehte mich herum, damit ich aus dem hohen Fenster sehen konnte. »Schau dorthin. In zehn Jahren wirst du hinausgehen, bereit oder nicht, ob du willst oder nicht. In zehn Jahren mußt du diesen geschützten Ort verlassen, diese Schule. In zehn Jahren wirst du das Wahre Spiel spielen.
    Du weißt nicht, daß ich es war, der dich damals vor Jahren gefunden hat, draußen vor Mertynhaus, ein Festivalkind, völlig feucht in deinen leuchtenden Tüchern, das Fäustchen im Mund. Wenn es irgend jemanden gibt, der so etwas wie ein Vater für dich ist, bin ich das. Vielleicht ist es ohne Bedeutung, aber diese wie auch immer geartete Beziehung zwischen uns beiden treibt mich dazu, mich um dich zu sorgen.« Er beugte sich vor, um seine Wange gegen meine zu drücken, eine schockierende Tat, ebenso verboten wie das, was ich getan hatte.
    »Überleg es dir, Peter. Ich kann dich nicht zwingen, weise zu handeln. Vielleicht jage ich dir bloß Angst ein. Überleg es dir trotzdem. Begib dich nicht in die Hände anderer.« Unvermittelt ließ er mich, der ich immer noch ärgerlich, verwirrt und sprachlos war, in dem hohen Raum allein.
    ›Begib dich nicht in die Hände anderer.‹ Die Grundregel des Spiels. Verbünde dich, aber liefere dich nicht aus, damit du kein einfacher Bauer wirst. Deshalb verboten sie uns so viele Dinge, versagten uns soviel, während wir noch jung und hilflos waren. Ich lehnte mich an die Fensterbank des hohen Fensters, wo das Sonnenlicht goldene Kreise bildete. Eine Linie gleichen Lichts reflektierte von einem großen Haus jenseits des Flusses, Dorcanhaus, ein Frauenhaus. Ich wußte wenig über Frauen. Es würde noch einige Jahre dauern, bis wir die weiblichen Figuren studierten, doch der Anblick dieses entfernten Hauses ließ mich überlegen, welche Namen, sie hatten, welchen Namen ich einmal tragen würde.
    Manche der Jungen behaupteten, daß man seinen späteren Namen heraushören könne, wenn man sich die Figuren vorsagte und dem Klang lauschte. Ich probierte es. »Waffenträger. Tragamor. Portierer. Schildwächter«, sagte ich in die Stille hinein. Nichts. »Flückelmann«, flüsterte ich, ebenso ohne irgendeine innere Reaktion. Ich hatte den Namen, von dem ich träumte, den ich mir am meisten ersehnte, nicht genannt, weil ich fühlte, daß es Unglück bringen könnte. Statt dessen rief ich in die morgendliche Stille: »Wer bin ich?« Als einzige Antwort ertönte, unpersönlichem Gelächter gleich, schrilles Geschrei von den Möwen im Hafen. Ich sagte mir, daß es keine Bedeutung hatte, wer ich war, solange ich mehr als einen bloßen Freund in Mandor besaß. In der Stadt läutete kurz eine Glocke, und ich wußte, daß ich das Frühstück verpaßt hatte und zu spät zum Unterricht kommen würde.
     
    Unten in der Klasse waren diesmal die Fenster geschlossen, damit das knisternde Kaminfeuer den Raum erwärmen konnte. Demnach gab es heute keine Modelle, nur Vorlesungen, eintönige, warme Worte anstatt eisiger aufregender Taten. Spielmeister Gervaise stolzierte bereits hin und her, über die Köpfe der Schüler hinwegmurmelnd, von denen bereits die Hälfte in der ungewohnten Wärme am Eindösen war.
    »Gestern entwickelten wir ein Königsspiel«, erklärte er gerade. »Diejenigen von euch, die aufpaßten, haben sicher bemerkt, wie unerwartet die Domäne aus der Umgebung emportauchte. Dieses
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher