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Das Vierte Siegel [Gesamtausgabe]

Das Vierte Siegel [Gesamtausgabe]

Titel: Das Vierte Siegel [Gesamtausgabe]
Autoren: Liane Sons
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Wenn du deinen Sohn als Opfer beklagst, denke daran, wie viele Opfer das Wasser deiner Quelle verschlungen hat. Glaubst du, Sterbliche leiden weniger? Hast du in deinen Träumen nie die Mütter der Kriegsopfer oder die Mütter der grausam verwandelten Schattenkrieger weinen hören? Hast du nie an die Jungen gedacht, die ihren Familien entrissen wurden, um zu Bestien geformt zu werden – durch dein Wasser? Haben die nie geweint? Ich bin nicht gekommen, um dir mein Mitleid zu bekunden. Ich bin gekommen, um eurem Treiben ein Ende zu bereiten. Die Menschen haben genug unter den Freveln der Unsterblichen gelitten. Vernichte die Siegel, oder ich versiegele diese Höhle, in der du dann weitere Jahrhunderte an deinen Sohn denken kannst, der sicher schon sehnsüchtig auf dich wartet.«
    Er spannte seine Muskeln an, weil er jetzt irgendeine Bestrafung erwartete, aber nur ein weiteres tiefes Seufzen erklang.
    »Du solltest mich nicht vorschnell verurteilen, mein junger König! Es war nicht Hass, was dieses Wasser färbte, es waren Kummer und Trauer. Dass meine über den Zeitraum von Jahrhunderten vergossenen Tränen dem Wasser Kraft gaben, ahnte ich nicht. Auch was die Menschen damit anfingen, konnte ich nicht verhindern. Ich habe in den letzten Jahren auch um die Kinder geweint, die in gefühllose Schattenwesen verwandelt wurden, aber was hätte ich tun können? Sag es mir, Neffe! Was hätte ich tun können?«
    »Ich kenne deine Macht nicht, aber mir konntest du schließlich auch helfen«, gab er schroff zu bedenken.
    »Meine Macht?« Sie lachte freudlos auf. »Schon seit Jahrhunderten verfüge ich nicht mehr über größere Macht. Weil du ein wenig Magie in dir hattest und von meinem Blute warst, konnte ich unsere Seelen verbinden und dadurch deinen Willen stärken. Nicht mehr, Rhonan! Alles andere war dein Verdienst. Aber diese Kinder, die der Hexenmeister mit dem Wasser nährte, besaßen keinerlei Magie. Für sie konnte ich genauso wenig tun wie für meinen eigenen Sohn. Nur dem Kind der Frau, die für mein Leid verantwortlich war, konnte ich helfen. Ich habe mich oft gefragt, ob auch das Teil der Rache meiner Schwester war oder ob die Götter mich nur prüfen wollten. Ausgerechnet dir zu helfen, hat mir mehr Schmerz als Freude bereitet, und trotzdem musste ich es tun. Weil ich bin, was ich war. Ich trug das Siegel der Liebe.«
    Er sah längere Zeit auf das durchscheinende Gebilde und verlor jeden Zweifel an ihrer Aufrichtigkeit. »Verzeih mir meine unbedachten Worte! Ich wünschte, ich könnte ungeschehen machen, was dir angetan wurde. Ich würde alles dafür geben«, brachte er leise hervor.
    »Ich weiß, dass du meinst, was du sagst. Ich habe dich oft beobachtet, Rhonan da’Kandar. Ich wollte dich so gern als Feind ansehen, aber ich konnte es nie. Du warst Palemas Sohn, stark, unbeugsam und tapfer wie sie, aber du warst auch ihr Opfer, genau wie Aaron und ich. Du bist nicht wie sie, und auch dein Herz hat kaum einen Platz für Geltungssucht, Hass und Rache. Die weise Dala hat es sicher auch erkannt. Du bist wie unser Vater, den ich über alles geliebt habe. Hätte mein Sohn die Möglichkeit gehabt, erwachsen zu werden, hätte ich gewünscht, er wäre so geworden wie er … oder wie du: vom Schicksal grausam geprüft und doch so sanft und gütig im Herzen!«
    Sie seufzte tief, und zahlreiche Strudel kräuselten die Wasseroberfläche. »Geh jetzt und versiegele die Quelle, damit das Wasser für alle Zeiten unerreichbar bleibt!«
    Er stutzte und starrte verwirrt auf das durchscheinende Gebilde. »Nein! Das will ich nicht, das kann ich nicht, und das werde ich nicht tun. Vernichte die Siegel!«
    Die darauffolgende lange Stille wurde schließlich von ihrem erneuten Seufzen unterbrochen, und er meinte plötzlich, die ganze Höhle würde mit ihr seufzen. »Ich würde es so gern tun. Glaub mir, nichts täte ich lieber, aber ich kann es nicht. Sieh dir den schwarzen Strom an! Weit im Inneren des Berges stürzt er in die Unendlichkeit. Dort verschwand mit meinem Körper das Siegel der Liebe – verloren für alle Zeit. Ich wollte sterben, aber ich konnte es nicht. Zu stark war noch die Kraft der anderen Siegel.«
    Weit breitete sie ihre rauchigen Arme aus. »Jetzt ist es zu spät. Ich bin weniger als ein Geist und kann sie nicht mehr vernichten. Sieh mich an, Rhonan! Wie sollte ich etwas tragen können? Ich besitze nicht einmal mehr die magischen Fähigkeiten, diese Siegel auch nur anzuheben. Wie gern würde ich sterben und
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