Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Versteck

Das Versteck

Titel: Das Versteck
Autoren: Dean R. Koontz
Vom Netzwerk:
schrecklicher Verfassung waren. Das Fleisch der Frau schien geschrumpft zu sein und alle Farbe verloren zu haben, so daß die natürliche Phosphoreszenz der Knochen sich bemerkbar machte und den Schädel unter ihrer Haut enthüllte, als wäre er eine brennende Laterne. Ihre Lippen waren so weiß wie ihre Zähne; abgesehen von ihrem tropfnassen schwarzen Haar waren nur die Augen dunkel, tief eingesunken wie die Augen einer Leiche und trübe vor Schmerz und Todesangst. Lee konnte unter diesen Umständen ihr Alter nur sehr grob schätzen, und er hätte beim besten Willen nicht sagen können, ob sie häßlich oder attraktiv war, aber er sah auf den ersten Blick, daß ihre Kraftreserven völlig erschöpft waren, daß nur noch ein eiserner Wille sie am Leben hielt.
    »Meinen Mann zuerst«, sagte sie und schob den Bewußtlosen in Lees Arme. Ihre schrille Stimme brach mehrmals. »Er hat eine Kopfverletzung, braucht Hilfe, beeilen Sie sich, los, schnell, verdammt noch mal!«
    Ihre Wut störte Lee nicht. Er wußte, daß sie nicht gegen ihn gerichtet war und daß sie ihr die Kraft zum Durchhalten gab.
    »Halten Sie sich fest. Wir gehen gemeinsam.« Er hob die Stimme, damit sie ihn trotz des brausenden Windes und des tosenden Flusses hören konnte. »Kämpfen Sie nicht gegen die Strömung an, versuchen Sie nicht, sich an den Felsen festzuhalten oder mit den Füßen auf dem Boden zu bleiben. Sie werden uns leichter an Land ziehen können, wenn wir uns vom Wasser tragen lassen.«
    Sie schien ihn verstanden zu haben.
    Lee warf einen Blick zum Ufer hinüber. Der Strahl einer Taschenlampe fiel direkt auf sein Gesicht, und er brüllte: »Fertig! Jetzt!«
    Die Männer begannen das Seil einzuholen. Mit dem bewußtlosen Mann und der erschöpften Frau im Schlepptau bewegte sich Lee langsam auf das Ufer zu.
7
    Nachdem Lindsey aus dem Wasser gezogen worden war, verlor sie immer wieder kurzfristig das Bewußtsein. Eine Zeitlang schien das Leben eine Videokassette zu sein, die im Schnelldurchlauf abgespult wird, mit grauweißem Flimmern und Störgeräuschen zwischen den willkürlich ausgewählten kurzen Szenen, bei denen der Film angehalten wurde.
    Sie lag keuchend auf dem Boden am Ufer. Ein junger Notarzt mit schneeverkrustetem Bart kniete an ihrer Seite und leuchtete ihr in die Augen, um festzustellen, ob ihre Pupillen sich ungleichmäßig erweiterten. »Können Sie mich hören?« fragte er.
    »Natürlich. Wo ist Hatch?«
    »Wissen Sie, wie Sie heißen?«
    »Wo ist mein Mann? Er braucht … künstliche Beatmung … Herzmassage …«
    »Wir kümmern uns um ihn. Also, wissen Sie, wie Sie heißen?«
    »Lindsey.«
    »Gut. Frieren Sie?«
    Das schien eine dumme Frage zu sein, aber dann bemerkte sie, daß ihr nicht mehr kalt war. Im Gegenteil, in ihren Gliedmaßen breitete sich eine leicht unangenehme Hitze aus. Es war nicht die glühende Hitze von Flammen. Vielmehr hatte sie das Gefühl, als wären ihre Hände und Füße in eine ätzende Flüssigkeit getaucht worden, die allmählich ihre Haut zersetzte und die bloßen Nervenenden freilegte. Sie wußte, ohne daß man es ihr sagen mußte, daß ihr Unvermögen, die bitterkalte Winterluft zu spüren, über ihren physischen Zustand nichts Gutes aussagte.
    Schnelldurchlauf …
    Sie wurde auf einer Bahre getragen. Am Flußufer entlang. Den Kopf vorne auf der Bahre, konnte sie den Träger am Fußende sehen. Die Schneedecke reflektierte die Strahlen der Taschenlampen, aber das schwache Licht war nicht hell genug, um mehr als die Konturen des Gesichts dieses Unbekannten erkennen zu lassen. Es verlieh seinen stahlharten Augen ein beängstigendes Flackern.
    Farblos wie eine Kohlezeichnung, unwirklich still und geheimnisvoll, voll unheimlicher Schatten, hatte diese Szene etwas Alptraumhaftes an sich. Lindsey bekam plötzlich wildes Herzklopfen, während sie zu dem fast gesichtslosen Mann hochsah. Der mangelnden Logik eines Angsttraums unterworfen, war sie davon überzeugt, daß sie tot war, daß die schattenhaften Gestalten, die ihre Bahre trugen, in Wirklichkeit überhaupt keine Menschen waren, sondern Geister, die ihre Leiche zu dem Boot brachten, das den Styx überquerte und im Land der Toten und Verdammten anlegte.
    Schnelldurchlauf …
    Sie war jetzt auf der Bahre festgeschnallt und wurde von unsichtbaren Männern oben auf dem Highway in fast vertikaler Position an zwei Seilen den Steilabhang hochgezogen. Zwei andere Männer begleiteten sie, kämpften sich rechts und links von der Bahre durch die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher