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Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)

Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)

Titel: Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)
Autoren: Martha Grimes
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echten Rhythmus hatte und er mit dem Fuß den Takt dazu schlagen konnte.
    Mir fiel ein, dass Will Trommeln gebastelt hatte, indem er eine dünne Leinwand (oder war es tote Menschenhaut?) über leere Bierfässer gespannt hatte. Wofür sie die Trommeln verwendet hatten, weiß ich nicht mehr, doch standen sie immer noch in der großen Garage. Also schlug ich vor, dass wir alle dort hinmarschierten, um sie auszuleihen. (Ich wusste, dass ich allein mit dieser Bitte nicht landen konnte.) Aber als sie unsere versammelte Mannschaft dann sahen und die Bitte vernahmen, lächelte Will sogar und ließ uns rein. Bestimmt auch bloß, damit sie selbst die Trommel schlagen konnten, während Ulub »Der Kongo« las. Und das taten sie. Und zwar derart laut und eindringlich, dass Ulub das Gedicht vergaß und sich auf eine Art Indianer-auf-dem-Kriegspfad-Tanz verlegte.
    Wir kamen daher zu dem Schluss, dass »Der Kongo« sich nicht unbedingt für Ulubs Leseübungen eignete. Ich schlug Shakespeare vor.
    Mr Root schüttelte den Kopf. »Zu altmodisch.«
    Robert Frost?
    Wieder Kopfschütteln. »Zu einfach.«
    Meine Vorratskammer an Dichtern war ungefähr so voll wie mein Bankschließfach, aber dass Robert Frost nicht »einfach« war, wusste ich. Ich durchforstete mein Hirn nach einem seiner Gedichte. »Der kann doch nicht einfach sein, jedenfalls nicht, wenn er für unseren größten modernen Dichter gehalten wird.«
    Mr Root blätterte bereits in seinem zerlesenen Buch und stieß auf ein Gedicht. Er las die ersten Zeilen von »Rast am Wald an einem verschneiten Abend« vor. Dann schlug er das Buch zu, als hätte er damit bewiesen, dass er recht hatte.
    »Mr Root, das ist eins der berühmtesten Gedichte in unserer Sprache, das ist doch das mit dem Wald …«
    »Berühmt und Wald, das bringt es ja nicht unbedingt.«
    Mr Root war uralt, drückte sich aber manchmal ganz schön flott aus.
    Er fuhr fort: »Wetten, so ein gutes Gedicht könnte jeder von uns schreiben, stimmt’s, Jungs?«
    Wenn man bedachte, wer »jeder« war, sollte er darauf lieber nicht allzu viel wetten.
    »Jawohl, wir könnten doch zum See rübergehen und zu dem Wald, wo das Haus der Devereaus steht, und da unser Gedicht schreiben«, meinte er aufmunternd.
    Ich sagte: »Mr Root, suchen wir uns doch einen anderen Dichter aus.« Obwohl ich nicht begriff, was »einfach« damit zu tun hatte, ob Ulub nun das eine oder das andere las.
    »Nun gut …« Er war verstimmt, blätterte aber ein paar Seiten weiter. »Hier ist dieser Wordsworth, der es mit den Narzissen hat. Probier das hier mal aus, Ulub: ein Meer aus goldenen Narzissen.«
    Ulub probierte es aus: »Ei Ee on oldne Naissen.«
    Mr Root sagte: »Siehst du? Also, das ist zu einfach. Das bietet Ulub nicht genug Bandbreite.«
    Die Rückseite einer Schachtel Rice Krispies würde Ulub genug Bandbreite bieten. Wenn ich die erste Zeile nicht gehört hätte, hätte ich wahrscheinlich nicht kapiert, dass »Ee« »Meer« bedeutete.
    Daraufhin beschloss Mr Root, auf Emily Dickinson zurückzukommen, eine Dichterin, die er zuvor als zu verrückt abgetan hatte. »Wie ›gellt‹ eigentlich das ›All‹? Was ist eine ›Amethyst-Erinnerung‹?« Aber jetzt war er wieder bei ihr gelandet. Er las vor:
    Tief hängt der Himmel, Wolken droh’n;
    Die Schneeflock auf der Reis’ …
    Wir standen oder saßen alle herum, während Mr Root im Geiste dieses Gedicht erörterte. Er trommelte mit den Fingern auf das Buch, brummelte ein bisschen herum und wiederholte manche Wörter. »›Schneeflock auf der Reis’.‹ Na, da steckt doch Pepp drin. Ulub, probier mal das da.« Er drehte ihm das Buch so hin, damit Ulub hineinschauen konnte.
    Ulub sah, und Ulub sagte: »Eebopp au de Ais.«
    »Gut«, sagte Mr Root. »Das hat genau den richtigen Schwierigkeitsgrad.«
    Emily Dickinson hatte also die Ehre, genau den richtigen Schwierigkeitsgrad zu besitzen, und wenn sie noch leben würde und verfügbar wäre, hätte ich sie gern zu einer Lesung eingeladen.
    Heute war Ubub bei Britten im Laden gewesen und hatte Flaschen mit Nehi-Traubensaft geholt, die er nun herumreichte. Mr Root bat Ulub, die Zeilen von Emily Dickinson zu wiederholen, die er gerade deklamiert hatte, als ich zur Bank gekommen war.
    Ulub räusperte sich und hob feierlich das Buch an.
    End aah, oh eien Beb ii on
    Ee Uhh ua Eune bais.
    »Heiliger Strohsack!«, rief Mr Root. »Seht ihr? Die kleine Lady kennt sich mit Dichtung aus, was?« Er wandte sich an Ubub, der gerade seinen Traubensaft trank.
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