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Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)

Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)

Titel: Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)
Autoren: Martha Grimes
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ich in seinen Worten nach Gold.
    Faulkners Wörter zögerten die letzte Folge der »Tragödie« hinaus. Ich versuchte, die Dinge so zu betrachten wie er, versuchte Wörter wie »käferumschwirrt« und »baumstumpfübersät« zu finden. Der Versuch, mir solche Wörter auszudenken, hielt mich beim Schreiben auf, aber ich konnte einfach nicht anders.
    Aus einem mit alten Zeitungen vollgestopften Regal zog ich die Ausgabe mit der Geschichte über die Entführung des Slade-Babys hervor. Die Zeitung war so alt, dass ich dachte, sie würde mir gleich in den Händen zerkrümeln. Nein, das dachte ich nicht, ich wollte bloß ein Wort wie »krümelbrüchig« erfinden. Ich musste damit aufhören, mir Dinge auszudenken, die zu Wörtern passten.
    Ich bezweifelte, dass ich in den Zeitungsartikeln irgendetwas Neues finden würde, da ich sie bereits durchgesehen hatte. Und schließlich hatte ich ja den Polizeibericht gelesen. Ich reihte die einzelnen Ausgaben nebeneinander auf: den Bericht über den »tragischen Unfall«, der kein Unfall war, sondern ein Mord – der Ertrinkungstod von Mary-Evelyn Devereau im Spirit Lake. Der Mord an Rose Devereau Queen in Cold Flat Junction. Der tödliche Schuss auf Fern Queen drüben an der White’s Bridge. Der Versuch, mich im Spirit Lake umzubringen (geschrieben von meiner Wenigkeit). Die Entführung des Slade-Babys. Das Feuer, in dem das Belle Rouen Hotel niederbrannte. Ganz schön viele Gewalttaten für so ein paar kleine Ortschaften.
    Das Bindeglied zwischen dem allem war, so glaubte ich, das Mädchen, das mysteriöse Mädchen, das kam und ging. Inzwischen hatte ich sie sechs Mal gesehen, zweimal beim alten Haus der Devereaus – einmal am Waldrand und später auf der anderen Seeseite. Es war diese seltsame Art, wie sie aussah, reglos und still, wie eine Statue. Ich erinnerte mich an sie aus der Entfernung, dazwischen der See, und ganz aus der Nähe am Bahnhof, auf dem Bahnsteig in Cold Flat Junction, wo sie in den Zug stieg, der dort auf dem Weg nach Hebrides und in die nördlich gelegenen Orte anhielt. Was mir an ihr auffiel – ich meine, außer ihrem Aussehen -, war die Tatsache, dass sie bis auf ein winziges Täschchen nichts bei sich hatte. Keinen Koffer, keinen Mantel, nichts, so dass es schien, als würde sie wie ich in der Nähe des Bahnhofs wohnen.
    Es überraschte mich, dass sie meinen Freunden im Windy Run Diner nicht aufgefallen war, denn sie war das genaue Ebenbild von Rose Devereau Queen, die als das schönste Mädchen galt, das Billy und Don Joe und Mervin, die alle im Diner saßen, je gesehen hatten.
    Als ich über diese Ähnlichkeit und Roses Tochter Fern nachdachte, kam ich zu dem Schluss, dass das Mädchen Ferns Tochter sein musste. Aber Fern war überhaupt nicht hübsch gewesen. Das gute Aussehen von Rose musste eine Generation übersprungen haben.
    Ich stellte mir einen hellen Umriss vor, in dem sie aussah wie aus dem Hintergrund herausgemeißelt. Was nicht so recht passte. Vielmehr war es eher so, als ob sie vom Hintergrund aufgesaugt und ganz darin aufgehen würde.
    Ich stand von dem Tisch mit den Zeitungen auf und trat an den Tisch neben der Tür, auf dem die neuesten Ausgaben von Life und der Saturday Evening Post lagen. Ich hatte die Titelseite schon gesehen und wollte sie mir noch mal anschauen. Sie lag ganz zuoberst, da, wo ich sie liegen gelassen hatte, und zeigte eine Frau in Rot vor einem roten Hintergrund. Ein schwarzer schmiedeeiserner Zaun war da noch und ein schwarzer Briefkasten. Die Frau warf gerade einen Brief ein, wahrscheinlich eine Weihnachtskarte, denn ich hatte offensichtlich die Weihnachtsnummer in der Hand. Leise fiel der Schnee, die Flocken waren bloß ein paar vereinzelte weiße Flecken.
    Mr Gumbrel hatte mir mal erzählt, dass der Künstler viele solche Illustrationen für Zeitschriften gemacht hatte. Sein Name war Coles Phillips, und er war dafür berühmt. Ich schaute den Stapel durch, fand aber keine weiteren. Durch dieses Rot vor Rot waren die Umrisse ihres Mantels unsichtbar. Sie verschmolz mit dem Hintergrund.
    Es war wohl eine optische Täuschung. Ich konnte die ganze Gestalt erkennen, wenn ich wollte, wenn ich auf eine bestimmte Art und Weise hinschaute. Es hatte jedoch etwas Beruhigendes, wenn man es so sah wie vom Künstler beabsichtigt, nämlich indem man den roten Mantel mit seinem Hintergrund verschwimmen ließ.
    Er nannte es die Fadeaway Girls .

5. KAPITEL
    Ich war von dieser ganzen Nachdenkerei völlig erschöpft und wollte mich
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