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Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Titel: Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman
Autoren: Tamar Yellin
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einem V begann, wie die Tradition es wollte, und dass die sechs Schlüsselwörter des Pentateuch am Anfang der Spalten standen. Er verzierte die entsprechenden Buchstaben mit
Dolchen und Kronen und schmückte sie liebevoll, denn er liebte die Buchstaben des hebräischen Alphabets wie zweiundzwanzig Kinder.
    Nach jeder halben Spalte ruhte er sich zehn Minuten aus, streckte seinen schmerzenden Nacken und dehnte die Finger. Auf diese Weise schaffte er viereinhalb Seiten, wenn er den ganzen Tag arbeitete. Am Ende der Woche nahm er seine Pergamente und überprüfte sie auf Fehler. Wenn eine Rolle fünfundachtzig aufeinanderfolgende Buchstaben ohne Fehler enthielt, war sie noch koscher; Fehler mussten aber innerhalb von dreißig Tagen korrigiert werden, sonst wurde die Rolle wertlos. Er brachte seine Arbeit zum Händler in der Hajehudim-Straße, der sie überprüfte, grunzte und hier und da einen Buchstaben bemängelte. Er hielt nichts davon, durch Komplimente schlampige Arbeit zu fördern. Er zog ein paar Münzen unter seinem Kaftan hervor - drei oder vier Francs - und versorgte meinen Urgroßvater mit neuen Pergamenten für die kommende Woche.
    Wenn er all sein Geld für Feigen ausgegeben oder an seine geschiedene Frau geschickt hatte, gab es Zeiten, in denen Reb Shalom nicht genug hatte, um den Schammes im Lehrhaus »Tröster Zions« zu bezahlen. Es machte ihm nichts aus, denn so hatte er die Gelegenheit, es dem großen Rabbi Hillel gleichzutun, der als Tagelöhner gearbeitet und sich nachts am Oberlicht des Lehrhauses die Nase platt gedrückt und der Debatte gelauscht hatte. In einer Winternacht schaute einer der Gelehrten hinauf und war überrascht, Shalom Shephers Gesicht im Oberlicht über seinem Kopf zu sehen. Als sie aufs Dach hinaufgingen, fanden sie ihn, alle viere ausgestreckt, von Schnee bedeckt. Sie brachten ihn hinunter und tauten ihn mit Brandy wieder auf. Er diskutierte daraufhin umso begeisterter mit.
    Die Ehe versprach eine deutliche Verbesserung seines
Lebensstandards. Zwar war er nicht reich, aber Raphaelovitch hatte ein Haus mit zwei Zimmern in der Chabad-Straße gemietet. In der vorderen Hälfte dieses Palasts lag die Küche mit Speisekammer und Kohleofen, und an ihren weißen Wänden hingen alle erdenklichen Kupfer- und Blechutensilien. Der hintere Raum diente als Wohnstube, Esszimmer, Arbeits- und Schlafzimmer und war mit orientalischen Sitzkissen ausgestattet. Die Bodenfliesen bestanden aus dem weichen, rosa-goldenen Jerusalemer Kalkstein. An einer Kette hing eine Messingöllampe von der Decke, und auf dem niedrigen Tisch lag eine Decke aus Seidendamast. Vor eine Ecke des Raums war ein Vorhang gezogen, hinter dem die junge Frau sich jederzeit fremden Blicken entziehen konnte.
    Raphaelovitch hatte zu seiner Tochter gesagt: »Wenn der junge Mann kommt, möchte ich, dass du ihm ein Huhn kochst und still bist. Er sucht keine kluge Frau, also brauchst du nichts zu sagen. Lass das Essen sprechen.«
    Er hatte seine Bücher demonstrativ auf dem Tisch ausgebreitet, als sein Gast ankam, um den Eindruck zu vermitteln, er sei ein großer Gelehrter, was er in Wirklichkeit keineswegs war. Raphaelovitch hatte zu seiner Zeit eine Menge Bücher gelesen, war aber durch seine Unfähigkeit, sich an ihren Inhalt zu erinnern, im Nachteil. Er konnte sich lediglich die Titel ins Gedächtnis rufen, die er für den Notfall auf einer sorgfältig zusammengestellten Liste im Ärmel mit sich herumtrug. Er las sehr schnell, weil er glaubte, sein Gehirn behielte dann mehr. Bis auf die Standardtexte las er nie ein Buch zweimal, denn alles, was wichtig war, musste ja irgendwo in seinem Kopf gespeichert sein, so wie sich über die Zeit Sedimentgestein ablagert. Auf der anderen Seite ging jedes Buch, das er je gelesen hatte, in seinen Besitz über, und er konnte sich nicht davon trennen. Aus diesem Grund hatte
er sein Geschäft schließlich aufgegeben und sich mit dem restlichen Bestand in Jerusalem niedergelassen.
    Unter den Büchern, die jetzt auf dem Tisch auslagen, waren eine stark gebrauchte Ausgabe des Sohar, die Mischneh Torah und ein handgeschriebenes religiöses Traktat aus dem sechzehnten Jahrhundert, das er aus dem Haus eines verstorbenen Rabbiners geholt hatte. Es war eines der Bücher, die er seinem Schwiegersohn später in einer sentimentalen Anwandlung zur Hochzeit schenken sollte. Hundert Jahre später landete es dann für eine hohe Summe in einem Londoner Auktionshaus, aber da war es schon längst nicht mehr in den
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