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Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Titel: Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman
Autoren: Tamar Yellin
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meine eigenen Bedürfnisse. Ich war ein Baum ohne Wurzeln, ein Haus ohne Fundament, ich würde beim ersten Windstoß einfach wegwehen. Aber vielleicht war das auch nur eine Illusion, die ich gehegt und gepflegt hatte. Ich nährte den Traum, dass ich mir in der nahen oder ferneren Zukunft selbst treu sein würde: dass ich es satthaben würde, meine grauen Tage über Textvarianten des Pentateuchs gebeugt zu verbringen, und dass ich meine Flügel ausbreiten würde, endlich, und zum Horizont fliegen. Aber die Zukunft ist uns immer voraus, und das Aufschieben ist unsere Familiensünde.
    Es hätte anders kommen können. Ich kann nicht leugnen, dass ich die Gelegenheit hatte. Einmal hätte ich solo für die Stadt singen können. Und es hatte einen jungen Saxophonisten gegeben, den dunkeläugigen Daniel, einen atheistisch-rationalistisch-anarchistischen
Aktivisten mit dem Gesicht eines Mystikers aus dem Mittelalter, einen Idealisten voller hehrer Zukunftsvisionen, der am utopischen säkularen Staat Palael mitarbeiten wollte. Dessen Gründung, erklärte er mir, war unser moralischer Auftrag als Juden.
    »Wenn die Bibel irgendwas zu bedeuten hat, dann das.«
    Er hatte gewollt, dass ich mitgehe, aber als die Zeit schließlich gekommen war und Daniel mit gepacktem Saxophon dastand, haderte ich immer noch. Ich konnte mich nicht dazu durchringen. Und so packte er seine Koffer und stellte mir ein Ultimatum: Entweder ich kam mit, oder es war aus.
    »Ich kann mich nicht entscheiden«, sagte ich.
    »Versuch nicht, dich zu entscheiden. Du kannst dich ja nicht einmal zwischen Ketchup und brauner Soße entscheiden. Komm einfach mit.«
    »Ich überleg’s mir«, sagte ich.
    Fünfzehn Jahre später überlegte ich immer noch, während ich mich von einer kurzen Begegnung zur nächsten treiben ließ, die Achseln zuckte, mit dem Strom schwamm und immer wieder auf diese erste, unschuldige Liebe zurückkam. Ich sagte mir, dass ich jetzt vielleicht fähig wäre, Daniel zu lieben, ich stellte mir sogar vor, Daniel wäre noch fähig, mich zu lieben. Aber es war zu spät. Das Leben hat seine eigenen Methoden, unsere Entscheidungen zu besiegeln, und die Entscheidung, die ich nicht hatte treffen können, war schließlich selbst herbeigeführt worden.
    Ich lebte allein für mich, in einer Seifenblase der Unabhängigkeit, die man auch Zurückgezogenheit nennen konnte, und folgte dem Alltagstrott, der, davon war ich überzeugt, mich aufrecht hielt: Ich unterrichtete meine paar Studenten, beschäftigte mich mit meinen eigenen Sachen und verkroch mich Abend für Abend in staubigen Bibliotheken oder fror
unter dem einsamen Licht meiner Schreibtischlampe. All das tat ich in dem Bewusstsein, dass mein Leben etwas Lächerliches hatte. Was nutzte der Welt schließlich noch eine weitere Studie über die orthographische Beziehung zwischen dem, was geschrieben steht, und dem, was gelesen wird, oder die vergleichende Philologie des Ugaritischen und Akkadischen? Zwar faszinierten mich diese Details zutiefst, aber im akademischen Umfeld, das immer mehr auf Nutzen und Finanzen ausgerichtet war und dessen Zukunft von Jahr zu Jahr unsicherer wurde, stellten sie eine seltene Orchidee dar. Und den wahren Gral meiner Forschung würde ich vermutlich auch nicht finden: das Original, den Urtext der hebräischen Schrift.
    Saul musste gerade vom Herzen reden, dachte ich bitter und wischte mir das Klebrige des Kühlschranks von den Händen. Dabei übermannte mich die Vergangenheit, bohrte sich einen Spalt in die Gegenwart und zerschnitt sie wie mit einem Messer. Ich dachte an den Sommer, in dem mein Vater beerdigt wurde. An diese entsetzliche Beerdigung, auf die ich nicht im Mindesten vorbereitet gewesen war, als wir in einer verwirrenden Wüste aus Gräbern und Staub der Bahre mit dem Leichnam meines Vaters bis zum Grab folgten, sein Körper in ein Leichenhemd gehüllt, auf dem ein Blutfleck zu sehen war, und zuschauten, wie sie Erde und Steine auf das ungeschützte Gesicht meines Vaters warfen. Hinterher beobachtete ich Reuben in der Dunkelheit des Gästezimmers - draußen leierte eine Gruppe von Männern in schwarzen Hüten Gebete. Mein Bruder spielte mit dem Radio herum. Ich sagte zu ihm: »Sie haben ihn wie einen Armen beerdigt.« Und Reuben, das Gesicht hinter seinem langen, dunklen Pony versteckt, antwortete gleichgültig: »Na ja, die Toten sind arm.« Saul saß an der Ecke des Küchentischs, sah mich durch seine Brille an und sagte: »Weißt du, dein
Vater hat deine
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