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Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Titel: Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman
Autoren: Tamar Yellin
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seine Tage gezählt waren. Es war, wie wenn man einen alten, kranken Verwandten besuchte. Man wusste nie, ob es vielleicht das letzte Mal war.
    »Und wo ist dein Bruder Reuben?«, hatte Saul mich gestern Abend gefragt, als hätte er erwartet, dass wir als Tandem auftauchen, wie früher, als immer einer dem anderen auf den Fersen war, der Große und die Kleine, die Rothaarige und der Dunkle. Obwohl wir schon fast erwachsen waren, als er uns zuletzt gesehen hatte, waren wir für ihn auch zwanzig Jahre später immer noch Kinder.
    »Mike«, korrigierte ich ihn. »Er nennt sich jetzt Mike.«
    Ich konnte ihm nicht sagen, dass Reuben die ganze Sache nicht interessierte, dass Reuben zu vergessen versuchte; dass Reuben nicht hatte mitkommen wollen.
    Onkel Cobbys Brief hatte mich hergelockt. Ein fragiles Gekritzel in zitternder Schülerschrift, ein Brief, der an sich schon ein Ereignis war, denn nur etwas wirklich Wichtiges konnte Cobby veranlassen, mir zu schreiben. Tante Batsheva war tot. Das Haus war an seine ursprünglichen Eigentümer zurückgefallen; die Zeit für seine heiligen Mauern war abgelaufen. Im Sommer wäre es nicht mehr da: Ein fünfstöckiger Wohnblock sollte seinen Platz einnehmen. Wenn ich es noch einmal sehen wollte, müsste ich sofort kommen.
    Selbst jetzt kann ich kaum zum Ausdruck bringen, was für ein Gefühlsaufruhr mich überkam: in was für einen Strudel aus Nostalgie, Trauer und Reue ich plötzlich gesogen wurde, als ich diesen Brief las. Jahrelang hatte ich wie unter Betäubung gelebt, wie in der tiefen Ruhe, die einem rasenden Sturm folgt. Ich hatte nicht geglaubt, dass es mich so heftig
mitnehmen würde. Ich führte ein geordnetes Leben; ich lebte allein; die Vergangenheit und mein Herz waren begraben und vergessen. Und jetzt dieses plötzliche Wiedererwachen, dieses impulsive Drängen nach all dem, wovor ich geflohen war, was ich unterdrückt und mit dem Mantel des Vergessens bedeckt hatte.
    Ich rief meinen Bruder an und fragte ihn, ob er mitkommen wolle.
    »Machst du Witze?«, schnappte er. »Warum zum Teufel sollte ich da noch mal hinfahren?« Und er fügte hinzu: »Du solltest es auch lieber bleiben lassen. Das bringt dich nur durcheinander.«
    Aber ich wollte dorthin fahren. Ich wollte durcheinandergebracht werden. Ich wollte etwas spüren nach der langen Dürre. Und so buchte ich bei der erstbesten Gelegenheit einen Einzelflug und packte meine Reisetasche. Auf Adlerschwingen in einem Jumbojet war ich zurückgeflogen, und als ich mich über die geschäftige, glitzernde Welt erhob, hatte ich auf die winzige, ferne Nadelspitze hinuntergeschaut, die mein bisheriges Leben war.
    Ich schob die klemmende Hintertür mit den neun Buntglasscheiben auf und trat hinaus. Der Morgen war angenehm warm, der blaue Himmel von unendlicher Tiefe, und ein Hauch von Frühling lag in der Luft, obwohl um diese Jahreszeit jederzeit der stürmische Malkosch-Regen einsetzen konnte. Der Platz sah aus wie immer, gesäumt von Pfefferbäumen und umringt von Wohnblocks. Sie waren grauer geworden und hatten lepröse Flecken bekommen, versteckten sich jedoch hinter wachsenden Zypressen und Oleandern. Das Haus hingegen hatte sich verändert: die Fensterläden lose, der Garten voller Müll, garniert mit einem kaputten Kinderwagen, der auf dem Müllhaufen lag wie eine seltsame Kirsche auf einem sehr hässlichen Kuchen. An der Ecke des
Grundstücks war die Mauer eingefallen, und die Kakteen waren verkümmert, halb tot, ihre schwarzen Gliedmaßen wie Schlangen über den unebenen Weg gelegt.
    Ich ging den Gartenweg entlang und stieg die paar Stufen zur Veranda hinauf, wo in einem Haufen verwelkter Blätter zwei kaputte Stühle einander gegenüberstanden wie in einem lang verstummten Gespräch. Auf dem Platz war es ruhig: Eine junge Mutter schob einen Sportwagen an der Synagoge vorbei, und auf der gegenüberliegenden Seite schlenderte ein frommer Jude in Kaftan und mit Schläfenlocken unter einem Pfefferbaum entlang.
    Ich dachte daran, wie das Haus früher voller Menschen gewesen war, wie ich, als Kind zu Besuch, blass und fremd mit meiner englischen Haut, die Stacheln der mir nicht vertrauten Pflanzen berührt und mich vor Skorpionen gefürchtet hatte. Oder wie ich im Schatten der Zypressen gesessen und die geduldigen Ameisen beobachtet hatte, Stunde um Stunde, wie sie in ekstatischem Müßiggang ihre Arbeitswege abliefen. Das Haus war jetzt leer, aber ich war wieder hier, immer noch blass und englisch, immer noch mit Furcht vor
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