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Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman

Titel: Das Vermächtnis des Shalom Shepher - Roman
Autoren: Tamar Yellin
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Skorpionen, obwohl ich in all den Jahren nicht einen einzigen zu Gesicht bekommen hatte. Dafür hatte ich eines Abends, als ich von einem Ausflug wiederkam, gesehen, wie mein Vater mit geübter Hand eine schwarze Schlange aus einem Oleanderbusch holte.
    Doch solcherlei war zu erwarten gewesen: dass mein Vater sich wieder auf sein früheres Selbst besann, ganz instinktiv und mühelos, wie ein gefangenes Tier, das man freiließ. Er kletterte auf Bäume, um Johannisbrot zu pflücken, wischte sich, ohne mit der Wimper zu zucken, eine sieben Zentimeter große Kakerlake von der Schulter. Er war ein Einheimischer, der wieder bei den Seinen war, so entspannt, wie wir ihn nie gekannt hatten. Wir hingegen waren Außenseiter,
Reuben, meine Mutter und ich, und kämpften mit Sonnenbrand und Mückenstichen, seltsamen Sitten, Magenverstimmungen und der fremden Sprache. Sommer um Sommer verbrachte meine Mutter die Tage liegend, ein mit Kölnischwasser getränktes Tuch über den Augen, im abgedunkelten Gästezimmer, in dem Familienfotos an den Wänden hingen. Sie fürchtete sich vielleicht weniger vor Skorpionen als vor etwas Unberechenbarerem und Erschreckenderem: vor der Abwesenheit meines Vaters und vor dem Verlassenwerden.
    »Das Haus von den Plotskys erkennst du nicht wieder.«
    Ich zuckte zusammen. Sauls Gesicht war an der Terrassentür aufgetaucht wie das einer blassen Marionette. Im nächsten Moment sprang die Tür auf. Das Holz war aufgequollen, und der Rahmen kratzte mit einem schabenden, splitternden Geräusch über den gefliesten Boden.
    »Das Haus von den Plotskys ist weg. Und der Garten auch. Alles Wohnblocks. Sie haben es für drei Millionen verkauft.«
    »Und Avram?«
    »Avram ist nach Amerika gegangen. Avinoam Plotsky hat sich umgebracht.« Saul schlurfte über die Veranda, seine Hausschuhe schoben sich durch Blätter und Staub, und er zwinkerte mit den Augen wie ein Höhlentier, das kein Tageslicht gewohnt ist. »Furchtbar, sich mit drei Millionen umzubringen.« Er starrte angestrengt über den Platz, als suche er etwas.
    »Es ist immer furchtbar, wenn sich jemand umbringt«, sagte ich.
    Plötzlich überkam mich das schlechte Gewissen: das schlechte Gewissen wegen all der Jahre schmerzhaften Aufschiebens, das schlechte Gewissen, weil ich zu lange weggeblieben war. Als hätte ich, wäre ich öfter hergekommen, die Veränderungen aufhalten, den Fortschritt bremsen können;
womöglich hätte ich sogar den armen Plotsky gerettet, in dessen tropischem Garten ich als Neunjährige Dschungelabenteuer gespielt hatte. In all den Jahren, die ich weg gewesen war, hatte ich nicht ein einziges Mal an ihn gedacht, und nun war er tot.
    Saul begann gedankenverloren, mit dem kleinen Finger sein rechtes Ohr zu erkunden, wackelte damit hin und her, untersuchte den zutage geförderten Inhalt und starrte dabei über den Platz. Sein Blick schien dem des Fremden im Kaftan zu begegnen, wobei ich mir überhaupt nicht vorstellen konnte, was in dem Moment in ihm vorging. Vielleicht hing er auch nur Erinnerungen nach. Als ich klein war, hatte er gern hier gestanden und mir beim Spielen auf den Bockspring-Reifen auf dem Platz zugeschaut. Wenn ich dann wieder ins Haus kam, tätschelte er mir den Kopf und nannte mich die Königin von England.
    Er schmatzte mit den Lippen - ich hörte sein Gebiss klacken - und holte tief Luft. »Erzähl doch mal, Shula. Unterrichtest du immer noch?«
    »Ich halte Vorlesungen«, berichtigte ich. »In Bibelwissenschaft.«
    »Und singst du noch?«
    »Oh nein. Ich singe schon lange nicht mehr.«
    »Wie schade. Du hast so schön gesungen.«
    Saul war seiner Berufung selbst nicht gefolgt. Er war inzwischen seit zehn Jahren im Ruhestand. Er war Lehrer gewesen und lebte in einer sagenhaft schmutzigen Wohnung am See Genezareth, dessen ruhige Gestade ihn mehr als ein halbes Jahrhundert lang gebannt hatten. Und doch war er aus der ganzen Familie vielleicht derjenige gewesen, der dieses Haus am meisten geliebt hatte. Jetzt war er wie ein Retter in der Not aus dem Norden gekommen und stand Wache über seinen umnachteten Mauern.

    »Wir werden alle Lehrer«, orakelte er. »Keiner von uns tut, was er tun sollte. Jedenfalls«, fügte er in einem plötzlich scharfen Ton hinzu, der mich erschreckte, »weiß ich, warum du gekommen bist.«
    »Oh - und warum?«
    »Wegen dem Kodex«, sagte er, wandte sich ab und schlurfte wieder ins Haus. Ich folgte ihm. Er schien irgendeine Art Zurückhaltung aufgegeben zu haben. Als ich noch einmal
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