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Das Verlorene Labyrinth

Das Verlorene Labyrinth

Titel: Das Verlorene Labyrinth
Autoren: Kate Mosse
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erzählten Geschichten unserer Vergangenheit haben wir Bestand.
    Alice glaubt nicht, dass sie das alles in Worte fassen kann. Anders als Sajhë ist sie keine begnadete Erzählerin, keine Schriftstellerin. Vielleicht, so denkt sie, entzieht es sich ja allen Worten. Man kann es Gott nennen oder Glauben. Vielleicht ist die Wahrheit des Grals zu groß, um ausgesprochen zu werden, um durch etwas so Veränderliches wie Sprache in Zeit und Raum und Kontext eingebunden zu werden.
    Alice stützt die Hände auf die Fensterbank und atmet die zarten Düfte des Abends ein. Wilder Thymian, Ginster, die schimmernde Erinnerung an die Hitze auf den Steinen, Bergsellerie und Minze, Salbei, die Aromen ihres Kräutergartens.
    Ihr Ruf verbreitet sich. Was als kleine Gefälligkeiten für Restaurants und Nachbarn begann, die sie mit Kräutern belieferte, ist zu einem einträglichen Geschäft geworden. Inzwischen bieten die meisten Hotels und Geschäfte in der Umgebung bis hin nach Foix und Mirepoix ihre Produkte an, die das charakteristische Etikett Epices Pelletier et Pille tragen. Der Name ihrer Ahnen, den sie angenommen hat.
    Der hameau Los Seres ist noch auf keiner Karte verzeichnet. Zu klein. Aber es wird nicht mehr lange dauern. Benleu.
    Unten im Arbeitszimmer hat das Klappern der Tastatur aufgehört. Alice hört Will in der Küche hantieren. Er holt Teller aus dem Schrank und Brot aus der Vorratskammer. Bald wird sie nach unten gehen. Er wird eine Flasche Wein öffnen, und sie wird schon mal ein Glas trinken, während er kocht.
    Morgen kommt Jeanne Giraud sie besuchen, eine würdevolle, bezaubernde Frau, die inzwischen fest zu ihrem Leben dazugehört. Am Nachmittag fahren sie dann ins nächste Dorf und legen auf dem Platz Blumen nieder, vor dem Denkmal, das an den gefeierten Widerstandskämpfer und Spezialisten für die Geschichte der Katharer, Audric Baillard, erinnert. Auf der Tafel steht ein okzitanisches Sprichwort, das Alice ausgesucht hat. »Pas a pas se va luenh.«
    Später wird Alice allein in die Berge gehen, zu der Stelle, wo eine andere Gedenktafel sein Grab in der freien Natur markiert, so wie er es sich immer gewünscht hat. Auf dem Stein steht schlicht SAJHË .
    Das genügt, um sich seiner zu erinnern.
    Der Stammbaum der Familie, Sajhë s erstes Geschenk an Alice, hängt an der Wand im Arbeitszimmer. Alice hat drei Veränderungen vorgenommen. Sie hat die Sterbedaten von Alaïs und Sajhë hinzugefügt, die achthundert Jahre auseinander liegen. Sie hat Wills Namen neben ihren gesetzt, und das Datum ihrer Heirat.
    Und ganz am Ende, wo die Geschichte weitergeht, steht jetzt:
     
    SAJHË SSE GRACE FARMER PELLETIER, geb. 28. Februar 2 007
     
    Alice lächelt und geht hinüber zu dem Kinderbettchen, in dem ihre Tochter sich rührt. Ihre hellen, niedlichen Zehen zucken, als sie allmählich aufwacht. Alice hält den Atem an, als ihre Tochter die Augen aufschlägt.
    Sie gibt ihr einen summenden Kuss auf den Kopf und stimmt ein Wiegenlied in der alten Sprache an, das von Generation zu Generation weitergegeben wurde.
     
    Bona nu è it, bona nu è it...
    Braves amics, pica mi è ja-nu è it
    Calfinir velhada
    Ejos la flassada.
     
    Eines Tages wird Sajhë sse das Lied vielleicht ihrem eigenen Kind Vorsingen.
    Mit ihrer Tochter auf dem Arm geht Alice wieder ans Fenster und denkt an all die Dinge, die sie ihr beibringen wird. An die Geschichten, die sie ihr über die Vergangenheit erzählen wird, und darüber, wie alles so gekommen ist.
    In ihren Träumen kommt Alaïs nicht mehr zu ihr. Aber als Alice in dem schwächer werdenden Licht steht und auf die uralten Gipfel und Bergkämme und Täler hinausschaut, die sich weiter erstrecken, als ihr Auge reicht, spürt sie die Gegenwart der Vergangenheit um sich herum, fühlt ihre Umarmung. Geister, Freunde, Gespenster, die ihre Hände ausstrecken und raunend von ihrem Leben erzählen, ihre Geheimnisse mit ihr teilen. Sie verbinden sie mit allen, die schon hier gestanden haben - und allen, die nach ihr kommen werden - und davon träumten, was das Leben wohl für sie bereithielt.
    In der Ferne steigt ein weißer Mond am gesprenkelten Himmel auf und verspricht für morgen wieder einen schönen Tag.

Historische Anmerkung
    I m März 1208 rief Papst Innozenz III. zu einem Kreuzzug gegen eine christliche Sekte im Languedoc auf. Die Anhänger dieser Sekte sind heute allgemein als Katharer bekannt. Sie selbst nannten sich Bons Chrétiens, Bernhard von Clairvaux nannte sie Albigenser, und in den
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