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Das Verlorene Labyrinth

Das Verlorene Labyrinth

Titel: Das Verlorene Labyrinth
Autoren: Kate Mosse
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geliebt«, stieß Alice hervor.
    »Von Harif hatte sie gelernt, die alte Sprache der Ägypter zu verstehen«, sprach er lächelnd weiter. »Anscheinend lebt noch ein Rest dieses Wissens in Ihnen weiter. Wir kamen hierher, und sie setzte die Fähigkeiten, die Harif sie gelehrt hatte, und ihr Wissen aus den Pergamenten ein. Der Gral wirkte durch sie.«
    »Wie ...« Alice suchte nach Worten. »Was geschah dann?«
    »Ich erinnere mich noch an das weiche Gefühl der Luft auf meiner Haut, das Flackern der Kerzen, die schönen Stimmen, die sich in der Dunkelheit emporschwangen. Die Worte schienen einfach aus ihrem Mund zu strömen, mussten kaum ausgesprochen werden. Alaïs stand vor dem Altar, Harif neben ihr.«
    »Es müssen aber noch andere da gewesen sein.«
    »Stimmt, aber ... auch wenn Ihnen das seltsam erscheinen mag, ich erinnere mich kaum daran. Ich hatte nur Augen für Alaïs . Ihr Gesicht, zutiefst konzentriert, die dünne Linie zwischen ihren Brauen, wenn sie die Stirn runzelte. Die Haare fielen ihr über den Rücken wie ein Wasserfall. Ich sah nichts außer ihr, nahm nichts wahr außer ihr. Sie hielt den Becher in den Händen und sprach die Worte. In einem einzigen Moment der Erleuchtung riss sie die Augen auf. Sie reichte mir den Becher, und ich trank.«
    Seine Augenlider flatterten rasch, wie das Schlagen von Schmetterlingsflügeln.
    »Wenn Ihr Leben so eine schwere Last war, warum haben Sie dann ohne sie weitergelebt?«
    »Perqué?«, fragte er erstaunt. »Warum? Weil das Alaïs ' Wunsch war. Ich musste doch leben, um erzählen zu können, was den Menschen dieses Landes widerfahren ist, hier in den Bergen und Ebenen. Musste dafür sorgen, dass ihre Geschichte nicht vergessen wurde. Das ist der Sinn des Grals. Denjenigen zu helfen, die Zeugnis ablegen müssen. Geschichte wird von den Siegern geschrieben, den Lügnern, den Stärksten, den Entschlossensten. Wahrheit findet sich am häufigsten in der Stille, an den leisen Orten.«
    Alice nickte. »Sie haben es getan, Sajhë . Sie haben etwas bewirkt.«
    »Guilhem de Tudela schrieb eine falsche Chronik des Kreuzzuges gegen uns, im Sinne der Franzosen. Er nannte sein Werk La Chanson de la Croisade. Als er starb, wurde es von einem anonymen Dichter vollendet, einem, dessen Sympathien eher auf Seiten des Pays d'Oc lagen. La Canso. Unsere Geschichte.« Trotz allem musste Alice lächeln.
    »Los mots vivents«, flüsterte er. Lebendige Worte. »Es war der Anfang. Ich habe Alaïs geschworen, dass ich die Wahrheit sagen, die Wahrheit schreiben würde, damit zukünftige Generationen von dem Grauen erfahren, das einst in diesem Land in ihrem Namen geschah. Damit die Menschen in Erinnerung blieben.« Alice nickte.
    »Harif verstand das. Er war diesen einsamen Weg schon vor mir gegangen. Er hatte die Welt bereist und gesehen, wie Worte verdreht und gebrochen und in Lügen verwandelt wurden. Auch er lebte, um Zeugnis abzulegen.« Sajhë holte zitternd Atem. »Er überlebte Alaïs nur um kurze Zeit. Er war über achthundert Jahre alt, als er starb. Hier, in Los Seres, mit Bertrande und mir an seiner Seite.«
    »Aber wo haben Sie all die Jahre gelebt? Wie haben Sie gelebt?«
    »Ich habe gesehen, wie das Grün des Frühlings dem Gold des Sommers wich, wie das Kupfer des Herbstes dem Weiß des Winters wich, während ich dasaß und auf das Verblassen des Lichtes wartete. Immer und immer wieder habe ich mich gefragt, warum. Wenn ich gewusst hätte, wie es sein würde, völlig allein zu sein, der einzige Zeuge für den endlosen Kreislauf von Geburt und Leben und Tod, was hätte ich getan? Ich habe dieses lange Leben mit Leere im Herzen erduldet, einer Leere, die mit den Jahren wuchs und wuchs, bis sie größer wurde als mein Herz selbst.«
    »Sie hat Sie geliebt, Sajhë «, sagte Alice leise. »Nicht in der Weise, wie Sie sie geliebt haben, aber ebenso treu und innig.«
    Ein Ausdruck des Friedens war auf sein Gesicht getreten. »Es vertat. Das weiß ich jetzt.«
    »Wenn ...«
    Ein Hustenanfall erfasste ihn, und blutiger Schaum quoll ihm aus dem Mundwinkel. Alice tupfte ihn mit dem Saum ihrer Robe ab.
    Er versuchte sich aufzusetzen. »Ich habe alles für Sie aufgeschrieben, Alice. Mein letztes Testament. Es wartet in Los Seres auf Sie. In Alaïs ' Haus, in dem wir gelebt haben und das ich jetzt Ihnen vermache.«
    In der Ferne meinte Alice Sirenengeheul zu hören, das die stille Bergluft durchdrang.
    »Sie sind fast da«, sagte sie, kämpfte gegen ihre Trauer an. »Ich habe doch
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