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Das verbotene Land 2 - Drachensohn

Das verbotene Land 2 - Drachensohn

Titel: Das verbotene Land 2 - Drachensohn
Autoren: Margaret Weis
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Weidengerte ausgepeitscht und ihn dann die ganze Nacht in der Mitte des Raumes stehen lassen. Sobald er zusammensackte oder eindöste, hatte sie ihm einen Schlag mit dem Zweig versetzt.
    Zu Nems Leidwesen war die Höhle nicht groß. Vor seinem inneren Auge tauchten oft gigantische Höhlen mit riesigen Sälen und labyrinthartigen Gängen auf, die man ewig erforschen konnte. Wenn er mitunter des Nachts nicht schlafen konnte oder vom Fauchen einer Wildkatze oder dem Schnüffeln eines um die Hütte tappenden Bären erwachte, stellte er sich vor, er läge zusammengerollt in der sicheren, dunklen Tiefe seiner Höhle, wo niemand auf der Welt ihn jemals finden konnte – nicht einmal seine Mutter.
    Nems Höhle besaß nur eine Kammer, die anscheinend einmal von einem Bären für seinen Winterschlaf genutzt worden war. Im vergangenen Herbst war Nem davon ausgegangen, dass der Bär sie erneut für sich beanspruchen würde und hatte sich dafür gerüstet, sie zu verteidigen. Bellona hatte ihn bereits zu einem geschickten Bogenschützen ausgebildet. Zum Glück für ihn und den Bären hatte das Tier seinen ungewöhnlichen, irgendwie erschreckenden Geruch gewittert und sich ein anderes Versteck gesucht. So war Nem nun alleiniger Besitzer der Höhle.
    Ein dichtes Wäldchen und einige zerklüftete Felsen schirmten die Höhle so ab, dass sie stets im Schatten lag. Der Junge liebte die Dunkelheit. Ihm konnte es nicht dunkel genug sein. Für ihn war die Schwärze von strahlenden Farben erfüllt, die lebhaft schimmernd seinen Geist durchfluteten. Wenn er allein in der schützenden Dunkelheit saß, schloss er gern die Augen und beobachtete die Farben. Er konnte sie berühren, bewegen und formen, wie Bellona ihre Pfeilspitzen formte oder die Schäfte glättete.
    Auch an diesem Tag, seinem Geburtstag, spielte er mit den Farben. Er warf sie in die Luft und fing sie im Fallen wieder auf. Dann formte er daraus das Bild seiner Mutter, Melisande. Er verlieh ihr seine eigenen Züge, denn letztes Jahr hatte Bellona ihm verraten, dass er das Gesicht seiner Mutter hätte.
    Doch er machte ihr Antlitz weicher als sein eigenes, damit es mehr den Gesichtern anderer Mütter glich, die er auf dem Markt gesehen hatte. Melisandes Gesicht war weich und freundlich, aber immer traurig. So sehr er sich auch bemühte, er konnte sich nicht vorstellen, dass sie ihn anlächelte, wie andere Mütter ihre Kinder anlächeln. Vielleicht jedoch würde sie heute lächeln. Schließlich war sein Geburtstag. Nachdem er sie erschaffen hatte, streckte er die Hand nach ihr aus.
    Da nahm eine andere Hand – eine Kinderhand wie seine eigene – in der Dunkelheit Gestalt an. Sie bestand nicht aus den Farben seines Geistes, sondern aus denen eines anderen. Die Kinderhand griff nach der seinen …
    Vor Überraschung entglitt Nem sein Bild. Die Farben begannen zu wabern, und in dem Aufruhr verschwanden das Bild seiner Mutter und die fremde Hand. Dann kauerte er in der Finsternis seiner Höhle und fragte sich, was da gerade geschehen war. Die Gedanken eines anderen hatten ihn berührt, so viel war ihm klar. So wie er und Bellona mit Worten sprachen, sprach dieser andere Verstand mit Farben. Zwischen den Farben hatte Nem eine Stimme vernommen, doch er war nicht imstande gewesen, sie zu verstehen.
    Diese Erfahrung war verstörend. Er wusste nicht, ob sie ihm gefiel oder nicht. In mancherlei Hinsicht war sie angenehm und aufregend, in anderer wiederum erschreckend. Er saß in der Dunkelheit, wo er sorgfältig seine Farben unterdrückte. Doch die Stimme wollte er wieder hören. Vielleicht konnte er sie verstehen.
    Seine Kaninchenfallen kamen ihm in den Sinn.
    Wieder rief Nem seine Farben auf und malte das Gesicht seiner Mutter. Es sollte der Köder für die Falle sein. Dann öffnete er seinen Geist der endlosen Finsternis und wartete ungeduldig und gespannt darauf, dass die andere Hand wieder auftauchte. Denn dann wollte er sie festhalten und herausfinden, wer das war.
    Aus dem Dunkel schnellte nicht eine Hand, sondern eine Klaue hervor. Sie packte die Farben und ließ nicht mehr los. Dann drang sie in seinen Geist vor, als würde sie ein Kaninchen aufschlitzen. Die Klaue durchwühlte sein Inneres, stellte es auf den Kopf, verwarf den Inhalt, kehrte ihn von innen nach außen – hob ihn hoch. Ein Gesicht erfüllte seine Gedanken: Ein lang gezogenes Gesicht mit langem Maul, das von schwarzblauen Schuppen überzogen war, mit scharfen Zähnen darin und roten Reptilienaugen, die ihn
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