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Das verborgene Kind

Das verborgene Kind

Titel: Das verborgene Kind
Autoren: Marcia Willett
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Seite des Tals, auf der Landzunge von Hurlstone Point, glitzerte ein heller Lichtpunkt. Sanft hob sich der geschwungene Seidenschirm des Hängegleiters in die Luft, drehte und trieb hoch über der Klippe dahin. Wie durch Magie gesellten sich andere Schirme – grün, scharlachrot und silbern – zu dem ersten; behutsam und langsam stiegen sie auf und ab wie in einem Luftballett.
    Matt hatte sich auf die Ellbogen gestützt und beobachtete die Sportler durch sein Fernglas. Er lag auf einer Decke neben dem Wagen, auf der sich auch die Reste eines Picknicks befanden. Ein Stück weiter weg versuchte Annabel, mit ein paar Krümeln ein Rotkehlchen anzulocken.
    »Es ist ganz zahm«, sagte sie gerade, richtete sich ein wenig aus ihrer Hockstellung auf und strich sich das Haar zurück. »Ist es nicht niedlich?«
    Matt hatte das Gefühl, den Mund voller Teig oder sonst einer Substanz zu haben, die ihn daran hinderte, normal zu sprechen. Seit sie High House verlassen hatten, spielte sie eine Rolle, entschlossen, sich als treue, hilfreiche Gefährtin darzustellen. Das Gespräch am Frühstückstisch hatte sich um Schriftsteller gedreht, die Schwierigkeiten des Zusammenlebens mit jemandem haben, der sich ständig in einer anderen Welt befindet; und Matt hatte sich eine Menge gutmütigen Spott gefallen lassen müssen.
    »Ichbezogenheit«, hatte Milo erklärt, den die Debatte hinter seiner Zeitung hervorgelockt hatte, »ist das Wort, das mir dazu sofort einfällt. Wenn er eine Geschichte im Kopf hat, bringt es überhaupt nichts, mit ihm zu reden. Schon als Kind war er so. Der Blick wird glasig, die Aufmerksamkeit schweift ab. Da könnte man ebenso gut Selbstgespräche führen.«
    Lottie hatte eine Geschichte über einen Autor erzählt, den sie bei einer Hochzeit kennengelernt hatte. Während des gesamten Empfangs hatte er nur von sich selbst gesprochen. »Genug von mir geredet«, hatte er dann gesagt. »Unterhalten wir uns über mein Buch.«
    Annabel war sichtlich hin- und hergerissen: Sollte sie ihre eigenen amüsanten Anekdoten über Schriftsteller beitragen, oder sollte sie Matt verteidigen?
    »Aber es ist trotzdem all das wert, oder?«, hatte sie eingewandt. »Denken Sie doch an Matts großartigen Erfolg!«
    Sie hatte ihm verständnisvoll zugelächelt, ein Lächeln, das »Ich bin auf deiner Seite« besagte und ihm entsetzlich peinlich war. Die anderen drei waren kurz verstummt, bevor einer von ihnen ein anderes Thema anschnitt. Seitdem hatte Annabel entschlossen demonstriert, dass sie – ganz gleich, wie antisozial, anstrengend oder eigenartig Schriftsteller auch sein mochten – aus dem richtigen Holz geschnitzt war, um sie zu unterstützen und zu ermuntern, und ganz besonders ihn.
    Jetzt warf sie ihm über die Schulter einen Blick zu, und er zwang sich, ihr zuzulächeln.
    »Ich liebe dein kleines Haus«, meinte sie. »Und die Geschichte ist so romantisch, nicht wahr? Dass Milos Urgroßmutter es extra hat bauen lassen, um dort zu malen.«
    »Viele Leute haben sich damals solche Lustschlösschen errichten lassen«, gab er müßig zurück. »Das Sommerhaus war wohl auch so was in der Art.«
    Ihm war gleich klar gewesen, dass er mit ihr nicht eingehender über das Sommerhaus reden wollte, obwohl er sich gezwungen gesehen hatte, es ihr zu zeigen. Sie war über alles entzückt gewesen, sogar über den kleinen Kater.
    »Ach, Matt, ist der süß!«, hatte sie ausgerufen. »Ich wusste gar nicht, dass du Katzen magst.«
    »Ich auch nicht«, hatte er geantwortet und Gleichgültigkeit vorgeschützt. »Er ist einfach aus dem Nichts heraus aufgetaucht, und ich warte noch ab, ob ihn jemand aus dem Dorf vermisst.«
    In diesem Moment hatte er es gewusst: Er wollte nicht, dass sie über das Kätzchen Bescheid wusste oder über Helena, George und dessen geisterhaften Zwilling. Und ganz bestimmt wollte er ihr nicht seine eigene Geschichte erzählen. Dort, auf der Veranda des Sommerhauses, hatte er sich entschieden, und jetzt musste er es Annabel nur noch sagen.
    »Vielleicht sollten wir lieber sehen, dass wir weiterkommen«, schlug er vor, »wenn wir noch mit Im Tee trinken wollen.« Matt stand auf und begann den Korb einzupacken und die Decke auszuschütteln. Er warf noch einen Blick zurück nach Hurlstone Point, aber der Tanz war vorüber. Die Sportler hatten ihre Seidenschirme zusammengefaltet.
    Annabel half ihm, die Picknickreste einzupacken. Innerlich kochte sie vor Wut. Was sie auch sagte oder tat, sie erreichte nichts. Sie fürchtete sich
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