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Das verborgene Kind

Das verborgene Kind

Titel: Das verborgene Kind
Autoren: Marcia Willett
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in die Hand und dachte daran, dass es sein größtes Vergnügen gewesen war, damit zu spielen. Wie Ims Matroschka-Puppe ließ sie sich in zwei Hälften auseinandernehmen, nur dass in diesem Fall eine kleinere und dann eine noch kleinere Katze zum Vorschein kamen bis zu der letzten, entzückenden Überraschung: einer winzigen Maus. Behutsam drehte Matt die beiden Hälften, aber die Katze hielt fest zusammen, und er musste mehr Druck anwenden, um die Teile zu trennen. Sobald ihm das gelungen war, sah er, woran das gelegen hatte. Um die nächste Katze hatte jemand ein Stück Papier gewickelt, ein hauchdünnes blaues Blatt Luftpostpapier.
    Matt wickelte es ab und strich es auf einem Knie glatt. Dann starrte er auf die Worte, kaum in der Lage, sie aufzunehmen.
    Verzeihen Sie mir! Ihr Sohn David ist hier bei uns. Er ist in Sicherheit, und ihm wird kein Leid geschehen. Tadji wusste, dass ich unfruchtbar bin und leide, weil ich mich nach einem Kind sehne. Daher hat sie ihn zu mir gebracht. Sie ist meine Nichte und wird als sein Kindermädchen bei uns bleiben. Sie hat Unrecht getan, großes Unrecht, aber sie liebt ihn auch und sagt, Sie hätten noch einen Sohn und würden bald ein weiteres Kind gebären. Mein Ehemann ist ein hochrangiges Regierungsmitglied und glaubt, David sei Tadjis uneheliches Kind. Er wird ihm ein gutes, glückliches Heim bieten. David wird es an nichts fehlen. Wir lieben ihn jetzt schon, aber ich denke an Ihren Schmerz und Ihre Furcht. Ich kann nichts dagegen tun. Auf meinen Mann darf kein Skandal fallen. Aber ich werde Ihnen über die Agentur Ihres Mannes Nachrichten über David zukommen lassen, um Ihnen zu versichern, dass er gut aufgehoben und glücklich ist. Wir lieben ihn sehr und haben ihn Wladimir genannt. Vergeben Sie mir!
    Zweimal las Matt ungläubig den Brief. Dann ließ er ihn sinken und nahm das Päckchen mit den Fotos aus der Schatulle: eines für jedes Jahr, geschickt von der Unbekannten, um seiner Mutter zu versichern, dass David noch am Leben und glücklich sei. Wieder und wieder nahm er eins in die Hand. Also war das doch nicht sein eigenes Gesicht, sondern das von David, der lächelte, lachte oder in die Ferne sah – ein glückliches, zuversichtliches Gesicht. Zuerst reagierte er schockiert und wütend. Er hatte bereitwillig an einen toten Zwilling geglaubt, aber der Beweis für die Existenz dieses lebendigen jungen Mannes, dessen Gesicht ein genaues Spiegelbild seines eigenen war, erfüllte ihn mit einem atavistischen Zorn. Es war, als habe man ihm, Matt, die Identität gestohlen, sodass er nicht mehr einzigartig war. Ganz langsam legte sich die Wut, und Matt betrachtete die Fotos erneut. Das vertraute, schwere Gefühl der Einsamkeit begann sich zu lösen wie ein Knoten; und langsam gestattete er sich, innerlich auf den jungen Mann zuzugehen, der seinen Blick so offen und vertrauensvoll erwiderte.
    »David«, murmelte er – und erinnerte sich daran, wie gequält seine Mutter reagiert hatte, als er das Alter Ego seines Romankinds »David« genannt hatte.
    »Warum dieser Name?«, hatte sie geschrien, und er hatte vermutet, dass er sie betrübt hatte, weil der zweite Vorname seines Vaters David gewesen war. Auf einer unbewussten Ebene hatte er sich an den Namen seines Zwillingsbruders erinnert und ihn in aller Unschuld gebraucht. Wie seine Mutter gelitten haben musste! Jedes Mal, wenn sie ihn anschaute, musste sie neben ihm David gesehen haben – wie den kleinen Geist auf den Gemälden. Er versuchte sich ihr Entsetzen vorzustellen, als sie diesen Brief erhalten hatte; die Qualen, die sie und sein Vater ausgestanden haben mussten, weil sie wussten, dass David noch irgendwo da draußen lebte und sie ihn dennoch vielleicht nie wiedersehen würden. Bestimmt hatten sie nach ihm gesucht, aber in einem Land wie Afghanistan mit seiner Hunderte von Meilen langen Grenze zur Sowjetunion hatten sie kaum die Chance gehabt, ihn aufzuspüren. Der Kalte Krieg befand sich damals noch in seinem letzten Stadium, behinderte die Kommunikation und sorgte dafür, dass keine verfänglichen Informationen nach außen drangen. Als seine Eltern die Hoffnung aufgegeben hatten, waren sie schließlich nach Hause zurückgekehrt und hatten sich bemüht, von vorn anzufangen. In der britischen Heimat hatte sicher niemand davon gewusst; und das Verschwinden eines Kindes in einem fernen Land hätte nicht die Titelseiten der Zeitungen beherrscht wie heute. Und wer davon gewusst hatte, der hatte sicher auf Helens Bitte hin
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