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Das Urteil

Titel: Das Urteil
Autoren: John Grisham
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an, die die Achseln zuckte, als passierte das ständig. Den sechsen stand es frei, den Saal sofort zu verlassen, und fünf von ihnen taten es. Herunter auf 189. Die Jury-Berater schrieben eifrig und strichen Namen durch. Auch die Anwälte machten sich Notizen.
    »So, und haben wir jemanden hier, der blind ist?« fragte der Richter. »Ich meine, blind im Sinne des Gesetzes?« Es war eine leichthin gestellte Frage, die einiges Lächeln auslöste. Weshalb sollte eine blinde Person erscheinen, um ihrer Geschworenenpflicht nachzukommen? So etwas hatte es noch nie gegeben.
    Langsam erhob sich in der Mitte der Menge, in Reihe sieben, eine Hand. Geschworener Nummer dreiundsechzig, ein Mr. Herman Grimes, Alter neunundfünfzig, Computerprogrammierer, weiß, verheiratet, keine Kinder. Was zum Teufel war das? Hatte irgend jemand gewußt, daß dieser Mann blind war? Auf beiden Seiten steckten die Jury-Experten die Köpfe zusammen. Die Herman-Grimes-Fotos waren Aufnahmen seines Hauses gewesen und ein oder zwei Schnappschüsse von ihm auf seiner Vorderveranda. Er wohnte seit ungefähr drei Jahren in der Gegend. Die Fragebögen gaben keinen Hinweis auf seine Behinderung.
    »Bitte, stehen Sie auf, Sir«, sagte der Richter.
    Herman Grimes erhob sich langsam, mit den Händen in den Taschen, in Freizeitkleidung und mit einer normal aussehenden Brille. Er machte keinen blinden Eindruck.
    »Ihre Nummer bitte«, sagte der Richter. Im Gegensatz zu den Anwälten und ihren Beratern hatte er sich nicht die Mühe machen müssen, sich jedes verfügbare Detail über jeden Geschworenen einzuprägen.
    »Äh, dreiundsechzig.«
    »Und Ihr Name?« Er blätterte in seinem Computerausdruck. »Herman Grimes.«
    Harkin fand den Namen, dann schaute er in das Meer von Gesichtern. »Und Sie sind blind im Sinne des Gesetzes?« »Ja, Sir.«
    »Also, Mr. Grimes, damit sind Sie unseren Gesetzen entsprechend von der Geschworenenpflicht entbunden und dürfen gehen.«
    Herman Grimes rührte sich nicht vom Fleck. Er betrachtete lediglich, was immer er sehen konnte, und fragte: »Weshalb?«
    »Wie bitte?«
    »Weshalb muß ich gehen?«
    »Weil Sie blind sind.«
    »Das weiß ich.«
    »Und, nun ja, Blinde können nicht als Geschworene dienen«, sagte Harkin, zuerst nach rechts und dann nach links schauend. »Sie dürfen gehen.«
    Herman Grimes zögerte, während er darüber nachdachte, wie er reagieren sollte. Im Saal herrschte Stille. Schließlich: »Weshalb können Blinde nicht als Geschworene dienen?«
    Harkin griff bereits nach einem Gesetzbuch. Seine Ehren hatte sich gewissenhaft auf diesen Prozeß vorbereitet. Er hatte bereits vor einem Monat damit aufgehört, sich anderen Fällen zu widmen, und sich in sein Amtszimmer zurückgezogen, wo er über Schriftsätzen, Beweisaufnahmen, den einschlägigen Gesetzen und den neuesten Verfahrens-Entscheidungen gebrütet hatte. Seit er als Richter tätig war, hatte er schon Dutzende von Jurys ausgewählt, alle möglichen Jurys für alle möglichen Prozesse, und glaubte, schon alles erlebt zu haben. Und jetzt war er in den ersten zehn Minuten der Geschworenen-Auswahl in einen Hinterhalt geraten. Und natürlich war der Gerichtssaal brechend voll.
    »Sie möchten als Geschworener fungieren, Mr. Grimes?« fragte er in dem Versuch, der Situation einen leichten Anstrich zu geben, während er Seiten umblätterte und die Fülle der in seiner Nähe versammelten juristischen Ta lente ansah. Mr. Grimes wurde aggressiv. »Sagen Sie mir, weshalb ein Blinder nicht Geschworener sein kann. Wenn das in den Gesetzen steht, dann sind die Gesetze diskriminierend, und ich werde dagegen klagen. Wenn es nicht in den Gesetzen steht und nur üblicherweise so gehandhabt wird, dann werde ich umso schneller klagen.«
    Es konnte kaum ein Zweifel daran bestehen, daß Prozesse für Mr. Grimes kein Neuland waren.
    Auf der einen Seite der Schranken saßen zweihundert kleine Leute, diejenigen, die die Kraft des Gesetzes in diesen Saal gezerrt hatte. Auf der anderen Seite saß das Gesetz selbst der auf seinem Podium über allen anderen thronende Richter, die Horde von steifen Anwälten, die ihre niederträchtigen Nasen rümpften, die Kanzlisten, die Deputies, die Gerichtsdiener. Mr. Herman Grimes hatte im Namen der Verpflichteten dem Establishment einen schweren Schlag versetzt und wurde dafür mit Gekicher und leisem Gelächter von seinen Kollegen belohnt. Ihm war das gleichgültig.
    Jenseits der Schranke lächelten die Anwälte, weil die potentiellen
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