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Das Unglück der kleinen Giftmischerin

Titel: Das Unglück der kleinen Giftmischerin
Autoren: Erich Wulff
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gleich, dass er tot war, und verscharrten seine Leiche. Danach fuhren sie in die Stadt zurück. Schuster ermahnte sie noch, über die Sache Schweigen zu bewahren, sonst würde ihnen was passieren, und sie hätten sich die ganze Zeit daran gehalten.
    Nach einigen Monaten Haft zogen alle, außer Eugen Schmied, ihre Aussagen zurück. Dies geschah zu dem Zeitpunkt, als bekannt wurde, dass man Schuster in England festgenommen und seine Auslieferung nach Deutschland beantragt hatte. Da außer Nikolai Schuster zur Tatzeit alle Jugendliche oder Heranwachsende waren und fünf von ihnen heroinabhängig, ordnete das Gericht die psychiatrische Begutachtung aller Angeklagten an. Ich sollte Eugen Schmied untersuchen, einen der zwei Angeklagten, die keine Drogen konsumiert hatten.
    In dem mir wohlvertrauten Anwaltszimmer der JVA stand mir ein großer, übergewichtiger junger Mann mit braunen Haaren und einem etwas verquollenen Gesicht gegenüber. Obwohl er nun auf die zwanzig zuging, hatte er immer noch etwas Ungeschicktes, kindlich Anrührendes an sich, Sein Deutsch war gebrochen, aber über Alltagsdinge konnte ich mich mit ihm gut in dieser Sprache verständigen und seine russischen Ergänzungen verstand ich zumeist auch. Natürlich hatte ich auch einen Dolmetscher mitgebracht, der letzte Unklarheiten im Verständnis beseitigen konnte. Schmied war ein ruhiger, etwas langsam redender und wohl auch denkender Heranwachsender, der wahrscheinlich auch aufgrund meines nahezu akzentfreien Russischs schnell Vertrauen zu mir fasste und sich bereit zeigte, mir nicht nur seine Lebensgeschichte, sondern auch den Tatablauf zu schildern.
    Er war als Sohn eines Viehzüchters in einem Kolchosendorf in Westsibirien, 100 Kilometer von Omsk entfernt, geboren und groß geworden. In den vier Straßen des kleinen Ortes hatten zweihundert Familien, alles Deutschstämmige, gewohnt. Vergeblich versuchte ich zu erfahren, wann und weshalb die Familie und die anderen Dorfbewohner in eine so entlegene Gegend verschlagen worden waren. Die Eltern seien schon dort geboren, sagte er, die Großeltern wohl während des Krieges dorthin evakuiert worden, aber darüber würde zu Hause nie gesprochen. Die Großeltern sprachen noch fließend Deutsch, die Eltern schon nicht mehr. Irgendwo hatte er gehört, dass es eine Zeit gegeben hätte, in der man diese Sprache am besten vermied, aber als er zur Schule kam, sei das schon lange vorbei gewesen, an ihrer Schule hätte es sogar Deutschunterricht gegeben. Viel gelernt hatte Jewgenij, so hieß Eugen bis zur Übersiedlung nach Deutschland, dort allerdings nicht, weil er oft die Schule schwänzte, um auf den Wiesen herumzureiten und Cowboy zu spielen. Der Vater erlaubte ihm das, ja er nahm ihn sogar öfter mit, wenn eine Rinderherde zum nächstgelegenen Schlachthof getrieben werden musste. Jewgenij hatte sich in seinem Dorf sehr glücklich gefühlt. Seine Familie bewohnte ein schönes kleines Haus mit einem großen Garten und er hatte dort viele Freunde gehabt, sagte er etwas wehmütig.
    Zur Übersiedlung nach Deutschland hatten die Eltern sich erst entschlossen, als die Gefahr bestand, dass die Söhne eingezogen und in den Tschetschenienkrieg geschickt werden würden. Die Entscheidung darüber war von den Eltern allein getroffen worden, sie, die Kinder, hatte niemand gefragt. Als sie Russland verließen, war Jewgenij fünfzehn Jahre alt. Nach einem mehrwöchigen Aufenthalt in einem Rückwandererlager landete die Familie in einer mittelgroßen norddeutschen Stadt, in einer Siedlung, die fast ausschließlich von Russlanddeutschen bewohnt wurde. Alles war plötzlich anders: statt eines Hauses mit Garten eine enge Wohnung, in der man leise sein musste, statt vieler Freunde zunächst niemanden, den man kannte, statt der Rückgriffsmöglichkeiten auf die ältere Generation die Beschränkung auf die Kernfamilie: Die Großeltern, die auch ausgewandert waren, lebten in einer anderen Stadt. Eine schier unübersehbare, verwirrende Warenfülle verführte dazu, über die knappen Mittel zu leben und Schulden zu machen. Für die Eltern - der Vater war Transportleiter, die Mutter Kantinenchefin des Kolchos gewesen - gab es zunächst nur Arbeitslosigkeit und Sozialhilfe, später für die Mutter eine schlecht bezahlte Putzfrauentätigkeit. Und um die Veränderungen komplett zu machen: Er selbst hieß nun nicht mehr Jewgenij, bei der Ausstellung der deutschen Papiere hatten die Behörden daraus Eugen gemacht.
    Eugen gelang es nicht, in
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