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Das Unglück der kleinen Giftmischerin

Titel: Das Unglück der kleinen Giftmischerin
Autoren: Erich Wulff
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in der sind wir Brüder.
    Aber diese Gemeinsamkeit geht noch über unsere gemeinsame Schwäche hinaus. Bei jedem entscheidenden Schritt ihrer Lebensgeschichte frage ich mich, wie ich wohl in ihrer Situation gehandelt hätte. Bei jedem ihrer Wünsche, ob ich ihn nicht auch hätte haben können. Und ich muss mir dann sagen, dass ich an vielen Entscheidungspunkten meines Lebens, ja schon bei den Lebensvoraussetzungen, in die ich hineingeboren bin, einfach mehr Glück gehabt habe als sie. Vielleicht ist ihre Lebensgeschichte nur eine Negativfolie der meinen. Unter ihren Voraussetzungen und bei einigen eigenen unglücklichen Entscheidungen mehr, hätte aus mir vielleicht auch ein Gewalttäter werden können. So weit sind wir also gar nicht voneinander entfernt.
    Als ich vor meinem Umzug nach Frankreich die 300 Kilogramm Gutachten, die ich später der Aktenvernichtung anheim gab, und die vielleicht 50 Kilo, die mich begleiten sollten, noch einmal durchblätterte, sah ich, dass viele der Menschen, denen ich als Gutachter begegnet war, ihre Taten in einer Krisen- und Umbruchsituation begangen hatten und dass sich unter ihnen viele Immigranten befanden: Kurden, Libanesen, Kosovo-Albaner, Vietnamesen, Menschen aus der früheren Sowjetunion, darunter auch Russlanddeutsche. Das mag an meinem Image als transkulturell erfahrener Psychiater gelegen haben, auch daran, dass meine aus der eigenen Kindheit herstammenden rudimentären Russischkenntnisse sich bei den Gerichten herumgesprochen hatten. Aber dass gesellschaftliche und welthistorische Umbruchsituationen sowohl das Gefühl für Recht und Unrecht als auch das Vertrauen in das vom Einzelnen an den Staat delegierte Gewaltmonopol schwächen können, ist ja seit den Anomieforschungen Dürkheims für niemanden mehr ein Geheimnis, und so kann es sein, dass die große Zahl derjenigen, die sich in solchen Umbruchsituationen vorfanden, doch mehr als ein Zufall ist. Auch solche Erfahrungen der Entwurzelung haben mich ihnen näher gebracht, musste ich doch als Dreizehnjähriger im November 1939 meine estländische Heimat verlassen, um zunächst in dem von Hitler eroberten »Warthegau« angesiedelt, danach im Frühjahr 1945 an die ostpreußische »Ostfront« geschickt und schließlich - mit viel Glück - in Westdeutschland angespült zu werden. Natürlich, sie hatten noch viel mehr verloren als ich, der einen Pass, eine Nationalität und, nach den Unbilden der ersten Nachkriegszeit, eine hoffnungsvolle, einigermaßen gesicherte Zukunft offeriert bekam. Aber eine kleine Ahnung davon, was ihnen zugestoßen war, vermittelte mir meine eigene Biografie doch, und sie reichte dazu aus, dass ich mich auch mit ihrem Schicksal ein Stück weit solidarisch fühlen konnte.
    Jetzt möchte ich damit anfangen, die Lebens- und Deliktgeschichten einiger Angeklagter und einiger Forensikpatienten zu erzählen, und auch einiges von ihren Prozessen, von denen ich die meisten von Anfang bis zum Ende mitverfolgen konnte. Dabei warten auf mich einige Tücken: Um die Begutachteten nicht nur der Form halber, sondern auch wirksam zu anonymisieren, musste ich nicht nur ihre Namen austauschen, die Daten ändern und die Gerichtsorte unkenntlich machen, auch ihre Geschichten mussten so weit verfremdet werden, dass Dritte sie nicht mit Gewissheit wiedererkennen können; manches musste ich zwangsläufig herausschneiden, um es dann wieder aufzufüllen. Aus einem Tatsachenbericht wurde so zwangsläufig eine Erzählung, aus einer deskriptiven so etwas wie eine narrative Forensik. Und gleichwohl musste ich darauf achten, dass dabei weder etwas Wesentliches verloren ging noch etwas allzu Unpassendes hinzugefügt wurde. Die anderen Lebensgeschichten, die ich diesen Menschen erfinden musste, sie sollten dennoch ihre Geschichten bleiben. Auf dieser Gratwanderung bitte ich nun meine Leser mich zu begleiten.

 
    Kopflos
    Anfang September des Jahres 1993 machte ein Passant in einem Waldstück nahe einer deutschen Kleinstadt bei einem Spaziergang eine schauerliche Entdeckung: Ein nackter Körper ohne Kopf, ohne Hände und Füße lag am Wegesrand. Zunächst konnte niemand diese Leiche identifizieren, irgendwelche Vermisstenmeldungen aus der Gegend lagen der Polizei nicht vor. Etwas später förderte eine genauere Spurensuche ein Portemonnaie mit Ausweispapieren auf den Namen Tumakow zutage, eines Asylsuchenden aus der ehemaligen Sowjetunion, der in einem Asylantenheim des kleinen Ortes untergebracht gewesen, aber dort seit einigen
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