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Das Unglück der kleinen Giftmischerin

Titel: Das Unglück der kleinen Giftmischerin
Autoren: Erich Wulff
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nämlich mit großer Vorsicht, zögernd und, wie ich den Eindruck hatte, trotz seiner Tränenausbrüche sehr überlegt aus, während alle anderen Schilderungen, auch die des Opfers und die seiner Verlobten, sehr spontan wirkten. Im Rückblick halte ich es also für möglich, ja für wahrscheinlich, dass Puchlins schon angesichts des Beiles im Kaufhaus beschlossen hatte, Tumakow zu töten. Darin läge auch eine gewisse Folgerichtigkeit, denn nur ein toter Tumakow wäre, aus Puchlins’ Sicht, für die Verlobte keine Gefahr mehr gewesen.
    Ein anderer Verdacht lief darauf hinaus, dass die Geschichte mit der Bedrohung der Verlobten nur ausgedacht war und Puchlins tatsächlich einen Killerauftrag der Mafia seines Heimatlandes ausgeführt hatte, bei dem es um die Herrschaft auf dem deutschen Gebrauchtwagenmarkt ging. Solche Einfälle spukten wahrscheinlich im Kopf aller Prozessbeteiligten herum, ohne dass darüber gesprochen werden durfte, aber sie wurden wohl von den meisten, so auch von mir, schließlich verworfen.
    Natürlich ist es nicht die Aufgabe des psychiatrischen Sachverständigen, über Tatversionen zu spekulieren, für die in der Hauptverhandlung keinerlei Anknüpfungspunkte sichtbar geworden sind, aber was im eigenen Kopf vor sich geht, lässt sich auch nicht einfach abschalten.
    Die Hauptverhandlung schleppte sich über mehrere Wochen dahin. Sie musste immer wieder unterbrochen werden, weil Puchlins so heftig weinte, dass er kein einziges Wort mehr hervorbrachte. Mehrfach musste überprüft werden, ob er in einem solchen Zustand noch verhandlungsfähig war. Aber der Geduld, der Souveränität und der Mischung aus Entschiedenheit und aus gütiger Zuwendung des Schwurgerichtsvorsitzenden gelang es jedes Mal wieder, ihn so weit zu beruhigen, dass er weitersprechen konnte. Aus Randbemerkungen in den Sitzungspausen konnte ich entnehmen, dass das Gericht Puchlins nicht für einen kaltherzigen, egoistischen Mörder hielt, ihm glaubte, er hätte aus Angst um seine Verlobte gehandelt, und nach einer Begründung suchte, die es erlaubte, kein »lebenslänglich«, sondern eine Zeitstrafe auszusprechen. Ich hatte in meinem Schlussgutachten zwei Argumente parat, dem Gericht dabei zu helfen:
    Zum einen war die Beziehung zu seiner Freundin zu seiner einzigen Sicherheit geworden, nachdem alle anderen existenziellen Sicherheiten zusammengebrochen waren: die vom Vater verkörperte sozialistische Gemeinschaftsideologie, die zwar ereignislose, aber gesicherte Zukunftsaussicht, die das Sowjetsystem ihm geboten hatte, aber auch der Beistand einer politisch einflussreichen Familie. So wurde die Angst, die Freundin auch noch zu verlieren, für Puchlins zu einer tödlichen Bedrohung.
    Zum anderem befanden sich die baltischen Republiken in diesen Übergangsjahren in einem Zustand der Gesetzlosigkeit, des Werteverlustes wie der Ordnungs- und Begriffslosigkeit. Was verboten, was erlaubt, ja was erwünscht war, grenzte sich nicht mehr klar voneinander ab. Recht, Moral und die Befriedigung der eigenen Lebensbedürfnisse, Bereiche, die auch in verhältnismäßig intakten Gesellschaften in einem immer problematischen, manchmal auch widersprüchlichen Spannungsverhältnis stehen, waren völlig auseinander gefallen, sie hatten nun nichts mehr miteinander zu tun. Der Großvater und Vater hatten die junge Sowjetrepublik aufbauen geholfen. Was sie getan hatten, war nun nichts mehr wert, ja vielleicht sogar ein Verbrechen gewesen. Aber auch die neue Moral, auf Geschäften aufgebaut, begann sich erst zu artikulieren, eine gesetzliche Gestalt hatte sie noch nicht gefunden. Der neue Staat besaß weder die Kräfte noch die Grundsätze, um das gewaltlose Zusammenleben seiner Bürger zu regeln und notfalls zu erzwingen. Selbst wenn einige rechtliche Grundsätze wie das Tötungsverbot natürlich auch von Puchlins erkannt und eingesehen werden konnten, musste er doch Probleme haben, sie als gesellschaftlich gewollte und so auch für ihn unter allen Umständen gültige anzuerkennen. Dazu hätte er sich als Glied irgendeiner Gesellschaft angenommen fühlen müssen. Das war aber nicht der Fall. So war er auf ein wölfisches Einzeldasein zurückgeworfen, mit seiner Verlobten als einzigem Halt. Anzunehmen ist, dass es seinem Opfer, Tumakow, nicht viel anders erging als ihm.
    Es gelang mir, diese Zusammenhänge dem Gericht darzulegen und sie als mögliche »Bewusstseinsstörung außerhalb von Affekttaten« zu klassifizieren. Damit war eine erheblich verminderte
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