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Das Unglück der kleinen Giftmischerin

Titel: Das Unglück der kleinen Giftmischerin
Autoren: Erich Wulff
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Interesse am weiblichen Geschlecht hatte.
    Gleich nach dem Schulabschluss wurde er nach Chabrowsk abkommandiert, einer ostsibirischen Stadt am Amurufer. Dort wurde er mit der Beförderung zum Hauptmann Kommandeur eines kleinen Flussschiffs und später stellvertretender Kommandeur eines Hochseeschiffs der Kriegsmarine, das allerdings den Hafen kaum je verließ, sodass er an Land Dienst machen musste. Bei einem solchen Landeinsatz - auf dem Amur-Eis mussten Fähnchen aufgestellt werden, um die Grenze zu China zu markieren - erfroren ihm die Füße, drei Zehen mussten amputiert werden. Eine medizinische Kommission schrieb ihn daraufhin untauglich für den Dienst auf See. Ein Kommando an Land interessierte ihn jedoch nicht und er suchte nun Wege, seine Entlassung aus dem Militär zu erzwingen. Die Streitkräfte verlassen durfte aber nur, wer gesundheitlich untauglich war oder sich als besonders schlechter, unzuverlässiger Soldat erwies. Sein Antrag, wegen des Zehenverlustes entlassen zu werden, wurde abgelehnt. So entschloss er sich dazu, auffällig zu werden. Er demonstrierte starkes Interesse an religiösen Themen und las den Matrosen im Unterricht aus der Bibel vor. Als das für eine Entlassung nicht genügte, sondern nur den Parteiausschluss nach sich zog, verfasste er über sich selbst eine besonders schlechte Beurteilung, in der er sich diverse Disziplinverstöße anlastete. Daraufhin durfte er im Juni 1989 aus dem aktiven Dienst ausscheiden, behielt aber seinen Rang als Reserveoffizier. Er verließ Chabrowsk und zog wieder zu seinen Eltern an die Ostsee. Dort fand er Ende 1989 eine Stelle als Lehrer an der staatlichen zivilen Seefahrtschule, an der er unter anderem Tauchunterricht erteilte.
    Mittlerweile hatte die Perestroika die Sowjetunion in Chaos und Inflation gestürzt. Saitsew verdiente nun nur noch 150 Rubel im Monat, während die Preise ständig stiegen. Aber er fand gleich einen Weg, sein Einkommen erheblich zu steigern, indem er für private Taucher Sauerstoffflaschen aus dem Reservoir der Schule abfüllte und diese verkaufte. Zudem suchte er Bernstein und verkaufte nach den offiziellen Ladenschlusszeiten Wodka und Zigaretten zum drei- bis fünffachen Preis.
    1991 beendete er seine Lehrtätigkeit an der zivilen Seefahrtschule und begann eine weitere Ausbildung an einem »Seefahrtzentrum«, die ihn auf eine Tätigkeit auf ausländischen Handelsschiffen vorbereiten sollte. Unterrichtet wurden dort Englisch, Navigation, Rettungswesen und Psychologie. Die meisten Lehrkräfte waren früher auf der militärischen Seefahrtschule tätig gewesen, unter ihnen auch Saitsews ehemaliger Lehrer Prof. Narusow. Dieser vermittelte ihm 1992 eine Arbeit auf dem griechischen Frachter »John N. «, einem verrotteten Seelenverkäufer, dessen Besatzung, einschließlich des Kapitäns, ausschließlich aus Russen bestand. Der Kapitän M., ein Freund Narusows, nahm sich seiner besonders an und erteilte ihm so erfolgreich praktischen Unterricht in Navigation, dass er nach einigen Monaten den Steuermann ersetzen konnte, der unterwegs wegen Unbotmäßigkeit entlassen worden war. Im Januar 1993 erkrankte Saitsew aber an einer Hepatitis und musste nach Hause zurück. Erst im Juli 1993 war er völlig genesen und erhielt bald darauf ein Angebot, auf dem deutschen Schiff »Susanne« als Matrose anzuheuern. Auf seiner ersten Fahrt mit ihr hatten sich die hier geschilderten Ereignisse abgespielt.
    Kurz nachdem ich mit Saitsew diese seine Vorgeschichte besprochen hatte, begann der Prozess, er sollte sich über fünf Monate hinziehen. Nach den englischen, den dänischen und den deutschen Zeugen - den Londoner Lotsen der »Susanne«, den Männern vom Seerettungsdienst, den erstvernehmenden Kriminalbeamten, der Kapitänswitwe - marschierten einer nach dem anderen Gestalten aus dem Schattenreich der gerade untergegangenen Welt der Sowjetunion auf, aus Leningrad und Moskau, aus Minsk und aus Kronstadt. Ich erinnere mich daran, wie der Vorsitzende Richter einen grauhaarigen gebeugten Mann in einem verschlissenen Anzug nach seinem Beruf fragte und zur Antwort bekam: »Zurzeit bin ich arbeitslos. Als ich Saitsew kennen lernte, war ich Kapitän eines abgewrackten Frachters. Aber bis 1989 leitete ich das Mathematische Institut der Universität K. und war korrespondierendes Mitglied der Akademie der Wissenschaften der Sowjetunion. « Sein Amt verlassen hätte er, als eine Putzfrau in einem der gerade entstehenden Privatbetriebe weitaus mehr Geld
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