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Das Unglück der kleinen Giftmischerin

Titel: Das Unglück der kleinen Giftmischerin
Autoren: Erich Wulff
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    Vorwort
    Woran liegt es, dass unter den vielen Angeklagten und Verurteilten, darunter mehr als hundert Mörder, Totschläger und Sexualdelinquenten, die ich während der letzten zwanzig Jahre zu begutachten hatte, allenfalls drei oder vier mir während unserer Gespräche Abscheu, Widerwillen oder Angst eingeflößt haben? Waren das wirklich die Monster, über deren Taten Presse und Fernsehen Angst und Schrecken verbreiten? Mir gegenüber saßen eher ruhige, höfliche, manchmal zunächst auch etwas eingeschüchterte Männer und Frauen, die sich weder in ihrem Outfit noch in ihrer Gestik und Mimik noch darin, wie sie redeten, merklich von den Leuten unterschieden, die man bei der Arbeit, im Laden oder abends in der Kneipe trifft. Hatten sie alle etwas von Dr. Jekyll und Mr. Hyde an sich?
    Wenn ich nach der Durchsicht der Strafakten zunächst noch etwas Angst hatte, diese Mörder oder Sexualdelinquenten, die ohnehin nichts mehr zu verlieren haben, könnten mich als Geisel nehmen, waren diese Befürchtungen meistens schon nach drei Minuten Gespräch mit ihnen wie weggewischt und ich begann, mich für ihr Lebensschicksal zu interessieren. Was für ein Kind ist dieser Mensch gewesen? Wer waren seine Eltern, seine Geschwister, seine Lehrer und seine Freunde? Wie hat er menschliche Nähe, wie hat er die Liebe, wie die Freundschaft kennen gelernt? Wie kam er mit seinen Lehrherren, seinen Vorgesetzten und seinen Arbeitskameraden zurecht? Und auf welchen Wegen, Umwegen und Abwegen ist er in seine Tat hineingeschlittert? Was hat ihn dazu verführt, was dazu getrieben? Je tiefer ich in diese seine Lebens- und Deliktgeschichte Eingang fand, desto stärker fühlte ich mich mit ihr verbunden, und schließlich war es mein Bruder Mensch, der durch sie zu mir sprach. Eine zunächst neutrale Informationsgewinnung war unversehens zu empathischem Verständnis umgeschlagen, dem sich nicht selten auch ein Schuss kumpelhafter Sympathie zugesellte.
    »Halt! « würde hier jeder sagen, der auch nur eine kleine Ahnung von psychoanalytischer Begrifflichkeit hat. »Was Sie da schildern, ist ein typisches Gegenübertragungsphänomen, das Ihnen außer Kontrolle geraten ist. Fragen Sie sich doch, was Sie bei diesen Verbrechern anzieht, welche eigenen unterdrückten Bedürfnisse Sie stellvertretend im Eingehen auf deren Lebensgeschichte und deren Untaten zu befriedigen suchen. Wenn Sie dem auf die Spur kommen, erst dann werden Sie diese Menschen so wahrnehmen können, wie sie wirklich sind. «
    Da mag etwas dran sein. Aber ich bin nicht der erste und nicht der einzige Sachverständige, dem so was nicht nur einmal, sondern immer wieder passiert. Und vielen Anwälten geht es nicht anders. Vielleicht ist dabei also auch etwas Allgemeineres im Spiel als meine eigenen unterdrückten Wünsche. Oder sie schaukeln sich zumindest an etwas Allgemeinerem hoch. Im Übrigen: Die Menschen sind es, die mir in diesen Gesprächen vertrauter werden, in manchen ihrer Taten bleibt ein unverdauter Rest Fremdartigkeit zurück, an den auch ich mich nicht herantraue.
    Um dem Allgemeinen, über meine Person des Gutachtenden und die des jeweiligen Begutachteten Hinausweisenden etwas näher zu kommen, frage ich mich, in welcher Situation die Begutachteten sich befinden, wenn sie mir in der Justizvollzugsanstalt oder auf der forensischen Station eines psychiatrischen Krankenhauses erstmals gegenübertreten. Und da ergibt sich als Antwort etwas ganz Banales: Sie alle sind Gefangene, des Knastes oder einer Forensik. Sie haben ihre Freiheit verloren, müssen tun, was die Justiz, von den Staatsanwälten und Richtern angefangen bis herunter zu den Wärtern, von ihnen verlangt, ihre Zukunft ist bestenfalls ungewiss, und was ihr Verhältnis zu den anderen Mitgefangenen betrifft, sind sie ziemlich schonungslos dem Recht des Stärkeren ausgeliefert. Sie finden sich - und ich finde sie - in einer Situation der Machtlosigkeit und Hilflosigkeit vor, vorbei die grenzenlosen Machtträume, die sie draußen als Täterinnen und Täter gehabt haben mögen. Jetzt sind sie schwach und brauchen jemanden, der sie unterstützt, jemanden, in den sie ihre Hoffnungen setzen können. Das ist zuerst ihr Anwalt - und das bin ja vielleicht auch ich. Sie haben einen feinen Riecher für mein Bedürfnis, den Schwachen zu helfen, das in einer solchen Situation angesprochen wird - weil ich auch mich selbst als einen Schwachen kenne. In meiner Sensibilität für diese Schwäche gründet unsere Gemeinsamkeit,
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