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Das Tibetprojekt

Titel: Das Tibetprojekt
Autoren: Tom Kahn
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an dieser Stelle würde ich unseren Philosophen und Theologen recht geben, wenn sie sagen, dass wir doch Intellekt, Religion
     und Kultur haben, und dass uns das von Tieren unterscheidet«, warf der Moderator ein.
    »Kultur und Religion sind nur zwei zaghafte und nicht immer sehr erfolgreiche Versuche unseres Verstandes, dieser Kräfte in
     uns Herr zu werden. Meist gelingt es nur, sie in einen inneren Kerker zu sperren. Wann immer es die Umstände erlauben, bricht
     das Tier hervor. Dann werfen wir den dünnen Mantel der Zivilisation ab.«
    »Das kann ich bestätigen«, sagte der Paläoanthropologe. »Das Bewusstsein und der Verstand sind immerhin die neuesten Errungenschaften
     der Evolution und man könnte sagen, sie sind noch im Versuchsstadium. Sie werden oft von den älteren und mächtigeren Schichten
     der Psyche übermannt. Daher kommen dann die blutrünstigen Schlagzeilen.«
    »Sie können sogar noch weiter gehen«, sagte der Zoologe. »Wir kennen durchaus Fälle, wo sogar die normalen Instinkte der Tiere
     zu versagen scheinen. Enten- und Delfinmännchen zum Beispiel fallen gelegentlich so lange brutal über ihre Weibchen her, dass
     sie diese im erzwungenen Paarungsakt umbringen.«
    Das Publikum staunte.
    |23| »Womit wir wieder bei Sex and Crime gelandet wären«, sagte der Moderator, um die Spannung zu mildern. »Diesmal im Tierreich.
     Ist es das, was dort unten in den alten Schichten unserer Seele lagert? Der Triebtäter in uns?«
    »Ja«, sagte Decker. »Es gibt viele Namen dafür. Das Gute und das Böse. Engel und Dämonen. Sexualität und Aggression, die Titanen
     der menschlichen Seele: Eros und Thanatos.«
    »Der Lebens- und der Todestrieb«, sagte der Gastgeber.
    »Oder eine schaffende und eine zerstörende Kraft«, fügte Decker hinzu. »Diese zwei Grundkräfte stecken hinter all unserem
     Streben, von der Kunst bis zum Sport, bis zum niedrigsten Verbrechen. Je nachdem, in welchem Mischungsverhältnis sie auftreten.«
    »Und was hat das jetzt mit Religion und unserem heutigen Thema zu tun?«, fragte der Theologe.
    »Sehr viel. Aber nur wenn man annimmt, dass nicht Gott den Menschen, sondern der Mensch Gott geschaffen hat. Sie werden dem
     in keiner Weise zustimmen. Aber wenn wir die Religion als etwas verstehen, das die menschliche Seele hervorgebracht hat, dann
     verrät Religion viel über ihr Innenleben.«
    »Ehe wir jetzt mit der alten unlösbaren Grundsatzdiskussion anfangen, ob es Gott gibt oder nicht, hätte ich noch eine Frage
     an Sie, Dr.   Decker«, griff der Moderator schlichtend ein. »Wenn Sie sagen, diese Triebe agieren unbewusst, wie kann man dann ihr Wirken
     beweisen?«
    »Es gibt Spuren. Man muss sie nur richtig lesen.« Er blickte zu dem Theologen und hob eine Augenbraue. »Nehmen wir zum Beispiel
     die Religion. Hier kann man wunderschön sehen, wie das Unbewusste arbeitet.«
    |24| Der Theologe rutschte auf seinem Stuhl hin und her.
    »Betrachten wir den katholischen Gottesdienst«, fuhr Decker fort. »Ich denke da an die Hostien. Wofür stehen sie?«
    Die Blicke der Experten gingen alle zu dem Theologen. Dieser sagte unbeirrt: »Sie symbolisieren das Fleisch und das Blut von
     Jesus Christus, unserem Herrn.«
    »Und was macht man damit in der Messe?«, fragte Decker.
    »Wir verzehren sie«, sagte der Geistliche misstrauisch.
    »Richtig. Sie verzehren Jesus Christus. Wenn wir das einmal nüchtern betrachten«, führte Decker den Gedanken weiter, »erkennen
     wir darin einen Akt des Kannibalismus.«
    »Also das geht jetzt aber zu weit«, sagte der Theologe. »Zu beleidigen brauchen Sie uns wirklich nicht.«
    Ein Raunen ging durch die Zuschauer. Auch die Chinesin hörte genau zu. Das bisher Gesagte führte genau in die Richtung, in
     der sie suchte.
     
    Decker ließ sich nicht weiter beirren. »Die Frage ist, woher kommt das? Welche Vorgeschichte hat dieses Ritual und welche
     unbewussten Bedürfnisse oder Motive schimmern hier durch?« Decker blickte amüsiert in die flüsternd diskutierenden Zuschauer
     und dann wieder zu seinen Kollegen. Der Moderator schien für einen Moment die Sprache verloren zu haben.
    Decker wartete noch einen Augenblick, bis es wieder ruhiger wurde und fuhr ein wenig im Vorlesungsstil fort: »Nun, in grauer
     Vorzeit hat unsere Spezies das auch schon gemacht. Nur nicht als Ritual wie heute in der Kirche, sondern als wirkliche Tat
     irgendwo in der Steppe. Allerdings wurde im ersten Schritt nicht der Sohn verspeist |25| , sondern der Vater von
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