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Das Tibetprojekt

Titel: Das Tibetprojekt
Autoren: Tom Kahn
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seinen Söhnen. Es ging dabei wie so oft um die Frauen.«
    Ein Raunen ging durch die Zuschauer.
    »In der Sprache der Zoologen würde man sagen, nachdem die Söhne das dominante Männchen getötet und aufgegessen hatten, gehörten
     ihnen die Weibchen des Rudels. Allerdings überkam sie nach ihrem Mord so etwas wie ein schlechtes Gewissen. Sie hatten fortan
     Angst vor der Strafe des strengen Vaters. Also besänftigten sie ihn, beziehungsweise ihre eigene Angst, indem sie ein Totem
     schufen und ihm Opfer brachten. Und gewisse Frauen waren fortan tabu.«
    »So soll das Christentum angefangen haben? Mit einem Mord und anschließendem Kannibalismus?«, fragte der Moderator. »Finden
     Sie das nicht ein wenig   ... spekulativ?« Der Theologe war entsetzt und im Publikum schüttelten die meisten ihre Köpfe. Decker ließ das kalt. Er kannte
     diese Reaktionen.
    »Selbst wenn Ihnen das jemand abkaufen wollte, mein lieber junger Freund«, sagte der Theologe. »Das ist doch die Steinzeit,
     von der Sie da reden. Das hat doch mit dem Christentum nichts zu tun.«
    »O doch. Die Angst vor der Strafe eines strengen Gottvaters dürfte für gläubige Christen sehr gegenwärtig sein. Vielleicht
     sind wir nach Tausenden von Generationen so weit, dass wir den Vater nicht mehr wirklich umbringen würden, aber der Impuls
     dazu ist noch vorhanden. Er sorgt für das typische diffuse Schuldgefühl der Gläubigen. Und für das Ritual, mit dem sie heute
     noch wöchentlich den Sohn verspeisen. Es ist die einzig mögliche Sühne der Urtat. Das Opfer. Von der einstigen Tat ist bis
     heute der unbewusste Wunsch übrig geblieben, es wieder zu tun. Das ist das Entscheidende.«
    |26| »Fällt mir auch schwer, das zu glauben«, sagte der Moderator.
    Decker ließ die Blicke wandern und sagte: »Ziehen Sie Parallelen. Denken Sie an die alten griechischen Dramen.«
    »Sie meinen Ödipus und den nach ihm benannten Komplex?«, fragte der Moderator.
    »Genau der. Eine ähnliche Szene. Die Griechen ahnten sicher auch schon, was in ihren und unseren Seelen vor sich geht.«
    »Also, mir wären harte Fakten lieber, wenn ich ehrlich bin«, erwiderte der Philosoph.
    »Dann müssen Sie sich mal an den Kollegen aus der Paläoanthropologie wenden. Das fällt in seinen Zuständigkeitsbereich«, sagte
     Decker und grinste.
    Der Angesprochene riss die Augen auf: »Wie bitte?«
    »Wenn wir davon ausgehen, dass sich die seelischen Strukturen für die griechische Mythologie und das Christentum vor sagen
     wir 300.000   Jahren zu entwickeln begannen, dann könnte Ihre Zunft vielleicht eines Tages die Beweise dafür liefern.«
    »Wie stellen Sie sich das vor?« Der Paläoanthropologe runzelte die Stirn.
    »Um bei Ödipus zu bleiben, es geht um die uralte Angst, entmannt zu werden. Die Kastration. Und auch hier dürfte einmal wirklich
     stattgefunden haben, was sich heute noch als Ahnung in der Seele finden lässt. Ich denke, es gibt Spuren im Sand ihrer Ausgrabungsstätten.
     Es hat sie nur noch keiner gefunden.«
    »Sie meinen Spuren, die Ihre Theorien beweisen? Das ist doch absurd.«
    »Nicht unbedingt«, sagte Decker. »Und die Zoologie hat auch einige interessante Fakten auf Lager.«
    |27| »Woran denken Sie?«, fragte der Zoologe, der für solche Ansätze ein offenes Ohr hatte.
    »An die Bonobos.« Decker musste schmunzeln bei dem Gedanken daran, was jetzt kommen würde.
    »Oh, ich sehe.« Der Zoologe grinste ebenfalls. »Das ist natürlich richtig.«
    »Vielleicht könnten Sie uns kurz einweihen«, sagte der Moderator etwas ungehalten.
    »Die Bonobos sind uns genetisch und in ihrem Verhalten am Nächsten. Sie sind vor allem berühmt in Fachkreisen, weil sie den
     Slogan
make love not war
in Vollendung leben. Alles wird mit Sex gelöst.«
    Das Publikum war amüsiert, manche lachten.
    »Das meinte ich jetzt nicht«, sagte Decker, »sondern den Kampf um die Weibchen.«
    Der Zoologe wurde ein bisschen rot. »Sie sind gut informiert. Das ist aber wirklich   ... .« Er zögerte.
    »Na, jetzt wollen wir’s aber wissen«, insistierte der Moderator. Die Zuschauer lauschten gespannt.
    »Okay«, sagte der Zoologe immer noch leicht verlegen. »Das worauf Dr.   Decker anspielt, sind Beobachtungen, die den Wettbewerb zweier Männchen um ein Weibchen betreffen. Der Konflikt wird anfangs
     mit den üblichen Kämpfen ausgetragen, wie man es von vielen Arten kennt. Das Besondere ist nur, dass es im Laufe des Streits
     gelegentlich zur«, er zögerte, »Entmannung
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