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Das Tibetprojekt

Titel: Das Tibetprojekt
Autoren: Tom Kahn
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kommt.«
    Der Moderator stieß einen Pfiff aus und verzog sein Gesicht. »Sie meinen unsere nächsten Artverwandten kastrieren sich gegenseitig?«
    »Das tun sie«, bestätigte der Zoologe verlegen.
    »Na bitte, da hätten Sie’s live«, sagte Decker.
    »Und dafür sollen wir Spuren in Afrika finden?«, spottete der Paläoanthropologe.
    |28| »Möglicherweise. Schauen Sie doch gelegentlich mal nach Kratzspuren von Faustkeilen im Genitalbereich der Knochen«, sagte
     Decker.
    »Dann können wir unsere Bücher umschreiben«, sagte der Paläoanthropologe.
    »Das ist schon häufiger vorgekommen«, sagte Decker unbeeindruckt.
    Der Theologe hatte seit einiger Zeit geschwiegen. Jetzt meldete er sich wieder zu Wort. »Dieser ganze biologistische Unsinn
     führt uns doch nicht weiter«, sagte er. »Eros und Thanatos – schön und gut. Aber die Kultur und die Kirche haben Menschen
     doch weit über seine niedrigen Triebe erhoben. Denken Sie an die weltbekannte Sixtinische Kapelle, zum Beispiel. Papst Julius
     der Große hat sie bei Michelangelo in Auftrag gegeben. Sie ist unbestreitbar eines der größten Kunstwerke der Menschheit.«
    »Tja, Herr Dr.   Decker? Was sagen Sie dazu?«, fragte der Gastgeber. »Kann Religion doch das Tier in uns überwinden?«
    Dr.   Decker hob ein wenig die Mundwinkel und sagte: »Das kann ich nicht sehen. Julius der Große hat die Arbeiten an der Kapelle
     ein Jahr unterbrochen, weil er Eroberungskriege im Namen des Kreuzes geführt hat. Und finanziert wurde das Kunstwerk zum Teil
     duch die Vergabe von Bordelllizenzen. Oder denken Sie an Papst Alexander VI. mit seinen Mätressen und Orgien. Sie alle wissen,
     dass die Geschichte der katholischen Kirche in Sachen Sex and Crime nichts zu wünschen übrig lässt. Die Geschichte des Vatikans
     ist ein wundervolles Beispiel für einen Grundgedanken der Tiefenpsychologie, nämlich die Wiederkehr des Verdrängten. Wie viel
     Mühe verwenden die Männer um den Petersdom auf die Unterdrückung |29| der eigenen Sexualität und Aggression. Und mit welcher Wucht schlägt es zurück und führt zu all den Exzessen.«
    »Unerhört«, kommentierte ein Zuschauer laut dazwischen. Andere im Publikum lachten. Es stimmte.
    »Wenn wir schon so weit sind«, sagte der Moderator wieder, »was wäre dann das Phänomen Religion aus Ihrer Sicht?«
    »Das wird den Anhängern nicht gefallen«, sagte Decker. »Aber Religion ist technisch gesehen eine Gruppenneurose.«
    Wieder kamen Zwischenrufe. Decker machte weiter.
    »Die Einzelnen sind unter ihresgleichen und dadurch fühlen sie sich normal. Und was Sie an Ostern und Weihnachten auf dem
     Petersplatz sehen, trägt die Züge einer Massenhysterie wie bei einem Rockkonzert. Viele Rituale sind nichts anderes als Zwangshandlungen.«
    Die ersten Buhrufe flammten auf. Der Moderator befürchtete schon, die Lage könnte eskalieren.
    »Wollen Sie vielleicht andeuten, Religion sei eine Krankheit?«, fragte der Theologe verärgert.
    »Religion ist ein Heilmittel. Sie hilft mit Problemen der Seele fertig zu werden«, besänftigte Dr.   Decker. »Allerdings müsste man es eine Schiefheilung nennen, denn sie funktioniert nur mit Illusionen.«
    »Ich höre mir das nicht länger an!«, protestierte der Theologe. Der Moderator holte gerade Luft, um einzuschreiten, als er
     über den kleinen Knopf im Ohr eine Regieanweisung erhielt. »Wir haben eine Zuschauerfrage«, sagte er in die Runde und deutete
     dabei ins Publikum. Eine Assistentin war bereits mit einem Mikrofon zu der Dame unterwegs, die die Hand gehoben hatte. Alle
     Blicke wendeten sich ihr zu. Auch Decker schaute |30| zu ihr herüber – und war fasziniert. Sie war mit Abstand die attraktivste Frau im Saal und offensichtlich Eurasierin, eine
     Chinesin mit einem westlichen Elternteil.
    Die Zuschauerin nahm das Mikro in die Hand und fragte: »Herr Dr.   Decker, ist Ihre Methode auf die westliche Hemisphäre beschränkt, oder könnte man Ihre Ansätze auch auf andere Kulturräume
     anwenden?«
    Decker starrte sie gebannt an. Ihre Bewegungen, ihre Kleidung und ihre Stimme verrieten Klasse und Intelligenz. Eine unwiderstehliche
     Mischung.
    »Warum nicht?«, antwortete er. »Woran denken Sie?«
    »An den Buddhismus, zum Beispiel?«
     
    Decker wollte die Schöne für sich gewinnen. Seine Gedanken waren ganz und gar nicht mehr bei der Sache. Und während er noch
     überlegte, wie er die Fragestellerin beeindrucken könnte, nutzte der Philosoph seine Chance.
    »Das halte ich für
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