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Das sterbende Tier

Das sterbende Tier

Titel: Das sterbende Tier
Autoren: Philip Roth
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vielleicht gar nicht gewußt hatte. »Im Fernseher lief The News Hour , die MacNeil-Lehrer News Hour, und dann«, sagte sie, während die Tränen ihr über die Wangen liefen, »dann seufzte er plötzlich: ›Pobre Mama. ‹ Die in Havanna ohne ihn gestorben war. Denn diese Generation, ihre Generation, hat das Land nicht verlassen. ›Pobre Mama. Pobre Papa.‹ Sie waren dort geblieben. Er hatte diese Traurigkeit, diese Sehnsucht nach ihnen. Diese schreckliche, schreckliche Sehnsucht. Und die habe ich auch. Aber ich sehne mich nach mir selbst. Nach meinem Leben. Ich fühle mich, ich befühle meinen Körper mit den Händen und denke: Das ist mein Körper! Er kann doch nicht verschwinden! Das kann doch nicht sein! Das kann doch nicht wirklich geschehen! Wie kann mein Körper verschwinden? Ich will nicht sterben! David, ich habe solche Angst zu sterben!« »Consuela, Liebling, du wirst nicht sterben. Du bist zweiunddreißig. Du wirst noch lange nicht sterben.« »Ich bin als Exilantin aufgewachsen. Darum habe ich Angst vor allem. Wußtest du das? Ich habe Angst vor allem!» «Nein. Das glaube ich nicht. Vor allem? Das kommt dir heute nacht vielleicht so vor, aber das ist doch nicht immer...« »Doch, immer. Ich wollte das Exil meiner Eltern nicht. Aber man wächst auf und hört immer ›Kuba, Kuba, Kuba...‹. Und sieh sie dir an! Diese Leute! So vulgäre Leute! Sieh dir an, was er aus Kuba gemacht hat! Ich werde Kuba nie sehen. Ich werde das Haus nie sehen. Ich werde ihr Haus nie sehen.« »Doch, das wirst du. Wenn Castro erst tot ist...« »Dann werde ich tot sein.« »Du wirst nicht tot sein. Du wirst leben. Du darfst nicht in Panik geraten. Es gibt keinen Grund zur Panik. Du wirst gesund werden, du wirst leben...« »Willst du wissen, welches Bild ich hatte? Von dort? Mein ganzes Leben lang? Das Bild, das ich von Kuba hatte?« »Ja. Sag es mir. Versuch, dich zu beruhigen, und erzähl mir alles. Soll ich den Fernseher ausschalten?« »Nein, nein. Sie werden irgendwas anderes zeigen. Müssen sie ja.« »Erzähl mir von dem Bild in deinem Kopf, Consuela.« »Kein Bild vom Strand. Das hatten meine Eltern. Meine Eltern haben immer davon gesprochen, wieviel Spaß sie dort hatten: Kinder, die am Strand herumrannten, Leute, die in Liegestühlen lagen und Mimosas bestellten. Sie mieteten ein Haus am Strand und so weiter, aber das waren nicht meine Erinnerungen. Ich hatte andere Bilder. Schon immer. Ach, David - sie haben Kuba begraben, lange bevor sie selbst begraben wurden. Sie mußten es tun. Mein Vater, mein Großvater, meine Großmutter - sie alle wußten, daß sie nie zurückkehren würden. Und sie sind nie zurückgekehrt. Und jetzt werde auch ich nie zurückkehren.« »Du wirst dorthin zurückkehren«, sagte ich. »Welches Bild hattest du schon immer? Erzähl mir davon. Erzähl es mir.« »Ich habe immer gedacht, daß ich dorthin zurückkehren würde. Nur um das Haus zu sehen. Ob es noch da ist.« »Ist es ein Bild des Hauses?« fragte ich sie. »Nein. Ein Bild von einer Straße. El Malecon. Wenn du irgendwelche Bilder von Havanna siehst, ist immer auch ein Bild von El Malecón dabei, von dieser schönen Straße am Meer. Es gibt da eine Ufermauer, und auf den Bildern sitzen die Leute auf der Mauer, sie sitzen da einfach herum. Hast du Buena Vista Social Club gesehen?« »Ja. Wegen dir. Natürlich habe ich ihn mir angesehen. Ich habe ihn mir angesehen und an dich gedacht.« »Also, es ist die Straße, wo sich die Wellen brechen«, sagte sie. »An der Mauer. Man sieht sie nur ganz kurz. Ich dachte immer, daß ich eines Tages dort stehen würde.« »Die Straße, wo du hättest sein können«, sagte ich. »Wo ich hätte sein sollen«, sagte Consuela, und wieder weinte sie haltlos, während auf dem Bildschirm die Showgirls mit ihren Lampenschirmen (von denen, wie man uns mitteilt, jeder sechseinhalb Kilo wiegt) kreuz und quer über die Bühne stolzieren. Ja, es ist eindeutig - Castro sagt zum zwanzigsten Jahrhundert: »Leck mich!« Denn dies ist auch das Ende seines historischen Abenteuers, das Ende der Spur, die er in der Geschichte der Menschheit hinterlassen und nicht hinterlassen hat. »Erzähl mir davon«, sagte ich zu ihr. »Du hast nie darüber gesprochen. Vor acht Jahren hast du nicht so geredet. Damals warst du eine Zuhörerin. Meine Studentin. Ich wußte nichts von diesen Dingen. Komm, erzähl mir, was hätte sein sollen.« »Diese Mauer«, sagte sie, »und ich. Das ist alles. Dort herumsitzen und mit den Leuten
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