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Das sterbende Tier

Das sterbende Tier

Titel: Das sterbende Tier
Autoren: Philip Roth
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bist doch praktisch allein.« Sie sagte, sie müsse darüber nachdenken. Sie sagte: »Es ist lieb, daß du mir das anbietest, aber ich weiß es noch nicht. Ich weiß nicht, ob ich dich gleich nach meiner Operation sehen will.« Sie ging gegen halb zwei; um etwa acht Uhr war sie gekommen. Sie fragte mich nicht, was ich mit den Fotos tun würde, die sie mich hatte machen lassen. Sie bat mich nicht, ihr Abzüge zu schicken. Ich habe sie noch nicht entwickeln lassen. Ich bin gespannt, sie zu sehen. Ich werde sie vergrößern. Natürlich werde ich ihr einen Satz schicken. Aber ich muß einen vertrauenswürdigen Menschen finden, der sie entwickelt. Angesichts meiner Interessen hätte ich schon längst lernen sollen, wie man einen Film entwickelt, aber ich habe es eben nie gelernt. Jetzt wäre es nützlich.
    Sie müßte jetzt irgendwann ins Krankenhaus gehen. Ich erwarte ihre Nachricht jeden Augenblick, eigentlich täglich. Seit sie vor drei Wochen bei mir war, habe ich kein Wort mehr von ihr gehört. Wird sie sich melden? Glauben Sie, daß sie sich melden wird? Sie hat mir gesagt, ich solle mich nicht mit ihr in Verbindung setzen. Sie wolle nichts mehr von mir - das waren ihre Worte, als sie ging. Ich habe praktisch neben dem Telefon gesessen, aus Angst, ihren Anruf zu verpassen.
    Seit ihrem Besuch habe ich viel telefoniert, mit allen möglichen Leuten, die ich kenne, mit Ärzten, die ich kenne, weil ich etwas über die Behandlung von Brustkrebs erfahren wollte. Ich dachte nämlich immer, es sei üblich, erst zu operieren und dann die Chemotherapie zu beginnen. Und das war etwas, was mir, als sie hier war, Sorgen machte. Ich dachte: An ihrem Fall ist irgend etwas, was ich nicht verstehe. Inzwischen habe ich erfahren, daß es nicht so ungewöhnlich ist, die Chemotherapie vor der Operation vorzunehmen, und daß dies nach und nach zur Standardbehandlung eines lokal fortgeschrittenen Brustkarzinoms wird, doch es drängt sich die Frage auf, ob diese Behandlung in Consuelas Fall die richtige ist. Was hat sie gemeint, als sie sagte, ihre Überlebenschancen lägen bei sechzig Prozent? Warum nur sechzig Prozent? Hat ihr das jemand gesagt, hat sie es irgendwo gelesen, oder hat sie es sich in ihrer Panik ausgedacht? Oder spielen Arzte aus Eitelkeit mit Langzeitprognosen? Vielleicht ist es nur eine Reaktion auf den Schock - eine ganz typische Reaktion übrigens - , aber ich denke die ganze Zeit, daß irgend etwas an ihrer Geschichte nicht stimmt, daß Consuela mir entweder nicht alles gesagt hat oder daß ihr selbst etwas verschwiegen worden ist... Jedenfalls das ist die Geschichte, die sie mir erzählt hat, und mehr habe ich bisher nicht erfahren .
    Sie ging gegen halb zwei, nachdem das neue Jahr Chicago erreicht hatte. Wir tranken Tee. Wir tranken ein Glas Wein. Weil sie mich darum bat, schaltete ich den Fernseher ein, und wir sahen uns die Aufzeichnungen der Neujahrsfeierlichkeiten an, erst die in Australien und dann die in Asien und Europa. Consuela war etwas sentimental. Sie erzählte mir Geschichten. Über ihre Kindheit. Daß ihr Vater mit ihr von klein auf in die Oper gegangen sei. Sie erzählte mir von einem Blumenhändler. »Letzten Samstag habe ich mit meiner Mutter auf der Madison Avenue Blumen gekauft«, sagte sie, »und der Blumenhändler hat gesagt: ›Was für einen hübschen Hut Sie da tragen‹, und ich habe geantwortet: ›Das hat auch seinen Grund‹, und er hat verstanden, was ich meinte, und ist ganz rot geworden und hat sich entschuldigt und mir ein Dutzend Rosen umsonst gegeben. Da sieht man, wie die Leute reagieren, wenn ein Mensch in Not ist. Sie wissen nicht, was sie tun sollen. Keiner weiß, was er sagen oder tun soll. Darum bin ich dir so dankbar«, sagte sie.
    Wie ich mich gefühlt habe? In jener Nacht hat mir am meisten der Gedanke daran weh getan, daß sie allein ist, daß sie im Bett liegt und panische Angst hat. Panische Angst vor dem Tod. Und was wird jetzt geschehen? Was glauben Sie? Wahrscheinlich wird sie mich nicht bitten, sie ins Krankenhaus zu begleiten. Sie hat sich gefreut, daß ich es ihr angeboten habe, aber wenn es soweit ist, wird sie mit ihrer Mutter dorthin gehen. Vielleicht ist sie am Silvesterabend einfach durchgedreht, weil sie zu elend und verängstigt war, um auf die Party zu gehen, zu der sie eingeladen war, und zu elend und verängstigt, um allein zu sein. Ich glaube nicht, daß sie mich anrufen wird, wenn sie in Panik gerät. Sie wollte, daß ich es ihr anbiete, aber sie wird das
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