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Das sterbende Tier

Das sterbende Tier

Titel: Das sterbende Tier
Autoren: Philip Roth
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sie noch neu, sie probiert ihn noch aus, sie denkt darüber nach - sie ist ein bißchen wie ein Jugendlicher, der mit einer geladenen Pistole durch die Straßen geht und noch nicht weiß, ob er die Waffe zur Selbstverteidigung eingesteckt hat oder dabei ist, eine Verbrecherlaufbahn einzuschlagen.
    Und sie ist sich noch einer anderen Sache bewußt, und das ist etwas, was ich nach dieser ersten Seminarsitzung noch nicht wissen konnte: Sie findet Kultur wichtig, auf eine ehrerbietige, altmodische Weise. Nicht daß Kultur etwas ist, nach dem sie ihr Leben ausrichten möchte. Das tut sie nicht, und das will sie auch gar nicht - dazu ist sie zu sehr Produkt einer traditionellen Erziehung -, aber Kultur ist wichtiger und wunderbarer als alles andere, das sie kennt. Sie ist eine von denen, die impressionistische Kunst überwältigend finden, doch einen kubistischen Picasso muß sie lange und eingehend - und stets mit einem Gefühl qualvoller Verwirrung - betrachten und sich die allergrößte Mühe geben, ihn zu verstehen. Sie wartet auf die überraschende neue Empfindung, den neuen Gedanken, das neue Gefühl, und wenn diese sich nicht einstellen, verurteilt sie sich dafür, daß sie unfähig ist, daß es ihr mangelt... mangelt an was? Sie verurteilt sich dafür, daß sie nicht einmal weiß, woran es ihr mangelt. Beim Anblick eines auch nur entfernt modernen Kunstwerks ist sie nicht nur verwirrt, sondern auch enttäuscht von sich selbst. Sie hätte so gern, daß Picasso für sie bedeutsamer wäre, daß er vielleicht ihr Leben verändern würde, doch vor dem Proszenium des Genies hängt ein Schleier, der ihr die Sicht nimmt und ihre Verehrung ein bißchen auf Distanz hält. Sie gibt der Kunst in all ihren Erscheinungsformen weit mehr, als sie zurückbekommt - eine Ernsthaftigkeit, die nicht ohne einen gewissen ergreifenden Reiz ist. Ein großes Herz, ein hübsches Gesicht, ein einladender und zugleich zurückhaltender Blick, herrliche Brüste - eine Frau, die erst vor so kurzer Zeit geschlüpft war, daß ich nicht überrascht gewesen wäre, wenn an ihrer glatten, eiförmig gekrümmten Stirn noch Schalenstückchen geklebt hätten. Ich sah sofort, daß sie genau mein Fall war.
    Nun, ich habe seit fünfzehn Jahren eine eiserne Regel, die ich nie breche: Keine privaten Kontakte, bis sie ihre Prüfung abgelegt und ihre Note erhalten haben und ich nicht mehr offiziell in loco parentis bin. Trotz aller Versuchungen - oder auch deutlichen Signale, einen Flirt zu beginnen und mich ihnen zu nähern - habe ich mich an diese Regel gehalten, seit ich Mitte der achtziger Jahre die Notrufnummer für Opfer sexueller Belästigung an der Tür meines Büros fand. Während des Semesters mache ich mich nicht an sie heran, denn ich will denen, die mir, wenn sie nur könnten, die Lebensfreude ernsthaft vergällen würden, keinen Vorwand liefern.
    Jedes Jahr unterrichte ich vierzehn Wochen lang, und während dieser Zeit habe ich keine Affären mit Studentinnen. Ich greife lieber zu einem Trick. Es ist ein einwandfreier Trick, ein offener und ehrlicher Trick, aber eben trotzdem ein Trick. Nach der Prüfung, wenn die Noten verteilt sind, veranstalte ich in meiner Wohnung eine Party. Sie ist immer ein Erfolg, und sie läuft immer gleich ab. Ich lade alle Seminarteilnehmer für sechs Uhr zu einem Drink ein. Ich sage ihnen, daß wir von sechs bis acht etwas trinken werden, und sie bleiben immer bis zwei Uhr morgens. Nach zehn drehen die Mutigsten auf und erzählen mir von ihren eigentlichen Interessen. Das Seminar »Praktische Kritik« hat etwa zwanzig, manchmal auch fünfundzwanzig Teilnehmer, und das heißt, es sind fünfzehn, sechzehn Frauen und fünf oder sechs Männer, von denen zwei oder drei nicht schwul sind. Bis um zehn hat sich die Hälfte verabschiedet. Danach sind meist ein nichtschwuler und vielleicht ein schwuler Mann und etwa neun Frauen übrig. Es sind immer die kultiviertesten, intelligentesten und lebhaftesten. Sie sprechen darüber, welche Bücher sie lesen, welche Musik sie hören, welche Ausstellungen sie sich angesehen haben Leidenschaften, über die sie normalerweise nicht mit ihren Eltern und auch nicht unbedingt mit ihren Freunden reden. In meinem Seminar finden sie einander. Und sie finden mich. Während dieser Party stellen sie auf einmal fest, daß ich ein menschliches Wesen bin. Ich bin nicht mehr ihr Lehrer, ich bin nicht mehr meine Reputation, ich bin nicht mehr ihr Vater. Ich habe eine hübsche, aufgeräumte
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