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Das sterbende Tier

Das sterbende Tier

Titel: Das sterbende Tier
Autoren: Philip Roth
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reden. Das ist alles. Man ist am Meer und doch in der Stadt. Es ist ein Treffpunkt. Es ist eine Promenade.« »Na ja, in dem Film sah sie ziemlich heruntergekommen aus«, sagte ich. »Ist sie auch. Aber ich hab sie mein Leben lang ganz anders gesehen.«
    Und dann der Kummer, die Last der Trauer um alles, was ihre Familie verloren hatte, um ihren Vater und ihre Großeltern, die im Exil gestorben waren, um sich selbst, die nun im Exil sterben würde (in einem Exil, dessen Grausamkeit sie noch nie so stark empfunden hatte), um das Kuba der Castillos, das Castro zerstört hatte, um alles, was sie fürchtete, verlassen zu müssen - und diese Last war so groß, daß Consuela in meinen Armen für fünf Minuten den Verstand verlor. Vor meinen Augen kehrte sich die Angst, die ihr Körper spürte, nach außen. »Was ist? Was kann ich für dich tun, Consuela? Sag es mir, und ich werde es tun. Was ist es, das dich so quält?«
    Und dann, als sie wieder imstande war zu sprechen, sagte sie es mir. Zu meiner Überraschung war es dies, was sie am meisten quälte: »Ich habe meinen Eltern immer auf englisch geantwortet. O Gott. Wenn ich ihm doch nur öfter auf spanisch geantwortet hätte.« »Wem?« »Meinem Vater. Er hörte es so gern, wenn ich ihn ›Papi‹ nannte. Aber als ich nicht mehr ganz klein war, habe ich das nicht mehr getan. Ich hab ihn ›Dad‹ genannt. Ich mußte einfach. Ich wollte Amerikanerin sein. Ich wollte ihre ganze Trauer nicht.« »Consuela, Liebste, es spielt jetzt keine Rolle mehr, wie du ihn genannt hast. Er wußte, daß du ihn geliebt hast. Er wußte, wie sehr...« Aber ich konnte sie nicht trösten. Ich hatte sie noch nie so sprechen hören, war auch nicht im mindesten auf das gefaßt, was sie als nächstes tat. In jedem ruhigen, vernünftigen Menschen verbirgt sich ein zweiter Mensch, der eine wahnsinnige Angst vor dem Tod hat, doch mit Zweiunddreißig ist die Spanne zwischen dem Jetzt und dem Dann gewöhnlich so gewaltig, so unermeßlich, daß man diesem zweiten Menschen nicht öfter als vielleicht ein paarmal im Jahr, und dann auch nur ganz kurz und spät in der Nacht, begegnet und in den Zustand des Wahnsinns eintaucht, der für diesen zweiten tägliche Realität ist.
    Was sie tat, war folgendes: Sie nahm den Hut ab. Sie warf ihn von sich. Die ganze Zeit, müssen Sie wissen, hatte sie diesen fezartigen Hut getragen, auch als sie sonst nackt gewesen war und ich die Fotos von ihren Brüsten gemacht hatte, doch jetzt riß sie ihn sich vom Kopf. Mit Silvesterausgelassenheit riß sie sich den komischen Silvesterhut vom Kopf. Erst Castros Farce einer heißen Bühnenshow und jetzt die radikale Enthüllung von Consuelas Sterblichkeit.
    Es war entsetzlich, sie ohne den Hut zu sehen. Eine so junge, so schöne Frau mit diesem Haarflaum, mit diesen sehr kurzen, feinen, farblosen, unbedeutenden Härchen - man hätte sie lieber glatzköpfig gesehen, geschoren von einem Friseur, als mit diesem idiotischen Flaum auf dem Schädel. Die Verwandlung der Gedanken, die man über einen bestimmten Menschen stets gedacht hat, nämlich daß er ebenso lebendig ist wie man selbst, in die durch irgend etwas - in Consuelas Fall durch ihre flaumige Glatze - ausgelöste Erkenntnis, daß dieser Mensch dem Tode nahe ist, daß er im Sterben begriffen ist, empfand ich in diesem Augenblick nicht nur als Schock, sondern auch als einen Verrat. Einen Verrat an Consuela, weil ich den Schock so rasch überwand und zu diesem Schluß kam. Der traumatische Augenblick ist da, wenn diese Verwandlung des Bildes vom anderen eintritt, wenn man erkennt, daß die Perspektiven des anderen keinerlei Ähnlichkeit mehr mit den eigenen haben und er oder sie, ganz gleich, wie angemessen man reagiert und fortfährt zu reagieren, sterben wird, bevor man selbst sterben muß - wenn man Glück hat, lange bevor man selbst sterben muß.
    Da. Da war es. Das ganze Grauen manifestierte sich in diesem Kopf. In Consuelas Kopf. Ich küßte ihn immer wieder. Was sonst hätte ich auch tun sollen? Das Gift der Chemotherapie. Was hatte es in ihrem Körper angerichtet! Was hatte es in ihrem Kopf angerichtet! Sie ist zweiunddreißig, sie glaubt, daß sie nun aus dem Leben verbannt ist, und erlebt alles zum allerletzten Mal. Aber was, wenn es nicht so ist? Was Ah! Das Telefon! Das könnte -! Wieviel Uhr ist es? Zwei Uhr morgens. Entschuldigen Sie mich!
    Das war sie. Sie hat angerufen. Sie hat endlich angerufen. Ich muß gehen. Sie ist in Panik. In zwei Wochen ist ihre
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