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Das sterbende Tier

Das sterbende Tier

Titel: Das sterbende Tier
Autoren: Philip Roth
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Batista so sehr verachtete, eine Korruption, die in seinen Augen doch wohl durch Touristen-Nachtclubs wie das Tropicana symbolisiert wurde, diesen Beitrag zu den Feiern der Jahrtausendwende tatsächlich genehmigt? Dem Papst wäre das nicht passiert - der hat eine ausgezeichnete PublicRelations-Abteilung. Nur die alte Sowjetunion wäre zu einer solchen Geschmacklosigkeit imstande gewesen. Castro hätte auf alle möglichen altmodischen Tableaus des sozialistischen Realismus zurückgreifen können: ein Fest auf einer Zuckerrohrplantage, in einer Entbindungsstation, in einer Zigarrenmanufaktur. Glückliche, zigarrenrauchende kubanische Arbeiter, glückliche, strahlende kubanische Mütter, glückliche, an der Mutterbrust trinkende kubanische Neugeborene... und statt dessen präsentiert er uns die schäbigste Art von Unterhaltung für Touristen? War das beabsichtigt? War es dumm? Oder sollte es ein gelungener Witz über all diese hysterischen Feiern anläßlich einer bedeutungslosen Markierung auf dem Strang der Geschichte sein? Was immer das Motiv war, er wird keinen Cent dafür ausgegeben haben. Er wird keine Minute darüber nachgedacht haben. Warum sollte der Revolutionär Castro oder irgend jemand sonst auch nur einen Augenblick über etwas nachdenken, das uns die Illusion vermittelt, etwas zu begreifen, das wir nicht begreifen können? Das Vergehen der Zeit. Wir schwimmen in der Zeit, bis wir schließlich darin versinken und sterben. Dieses Nicht-Ereignis wird zu einem bedeutenden Ereignis aufgeblasen, während Consuela hier das größte Ereignis ihres Lebens bewältigen muß. Das Große Ende, auch wenn niemand weiß, was - wenn überhaupt - da endet, und erst recht niemand weiß, was damit beginnt. Man feiert außer Rand und Band, auch wenn niemand weiß, was man feiert.
    Nur Consuela weiß es, denn Consuela kennt jetzt die Wunde des Alters. Für alle außer den Alternden ist das Altern unvorstellbar, aber das gilt nicht mehr für Consuela. Sie mißt die Zeit nicht mehr wie die Jungen, indem sie zurückblickt, dorthin, wo ihr Leben begann. Für alle, die jung sind, besteht die Zeit immer aus dem Vergangenen, doch für Consuela besteht sie aus der Zukunft, die ihr noch bleibt, und sie glaubt nicht, daß ihr viel bleibt. Jetzt bemißt sie die Zeit, indem sie nach vorn sieht, dem nahenden Tod entgegen. Die Illusion ist zerstört, die metronomische Illusion, der tröstliche Gedanke, daß alles - tick, tack - zur richtigen Zeit geschieht. Ihr Zeitgefühl ist nun wie meins: Es ist beschleunigt, und sie hat sogar noch mehr Anlaß zu Verzweiflung als ich. Im Grunde hat sie mich überholt. Ich kann nämlich noch immer denken: »Ich werde nicht innerhalb der nächsten fünf Jahre sterben, vielleicht nicht mal innerhalb der nächsten zehn Jahre, denn ich bin fit und gesund und lebe vielleicht sogar noch zwanzig Jahre, während sie...
Das schönste Kindermärchen ist, daß alles in der richtigen Reihenfolge geschieht.
    Deine Großeltern sterben lange vor deinen Eltern, und deine Eltern sterben lange vor dir. Wenn man Glück hat, ist es so - die Menschen altern und sterben, in der richtigen Reihenfolge, so daß man bei der Beerdigung den Schmerz lindern kann durch den Gedanken, dieser Mensch habe ein langes Leben gehabt. Das macht die Auslöschung zwar kaum weniger schrecklich, aber es ist ein Trick, mit dem wir die metronomische Illusion aufrechterhalten und die Tortur der Zeit abmildern: »Soundso hat ein langes Leben gehabt.« Doch dieses Glück ist Consuela nicht zuteil geworden, und so sitzt sie neben mir, zum Tode verurteilt, während auf dem Bildschirm ein die ganze Nacht dauernder Freudentaumel zu sehen ist, eine fabrizierte, kindische Hysterie, mit der die Menschen eine unbegrenzte Zukunft feiern, erfüllt von einer Ausgelassenheit, der sich reife Erwachsene mit ihrem melancholischen Wissen um eine sehr begrenzte Zukunft nicht hinzugeben vermögen. Und in dieser Nacht des Wahnsinns kann kein Wissen melancholischer sein als das Consuelas.
    »Havanna«, sagt sie und weint immer heftiger, »ich dachte, ich würde eines Tages Havanna sehen.« »Aber das wirst du.« »Nein, das werde ich nicht. Ach, David, mein Großvater...« »Ja, was ist mit ihm? Komm, sag es mir.« »Mein Großvater saß immer im Wohnzimmer...« »Sprich weiter.« Ich hielt sie in den Armen, als sie von sich selbst erzählte, wie sie es noch nie zuvor getan hatte, wie sie es noch nie hatte tun müssen, und Dinge über sich sagte, die sie selbst bis dahin
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