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Das spanische Medaillon

Das spanische Medaillon

Titel: Das spanische Medaillon
Autoren: Tom Wolf
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Kupferstich hinterm Scheibenkarrée vorüberzog, flossen ihr wieder die Tränen. Auch den Tschako hatte sie unwirsch zur Seite geschoben und die Uniformjacke ausgezogen. Sie hüllte sich in den Pelz und schien sich ihrer Uniform zu schämen. »Abzug hat er gefordert, Krieg angedroht«, sagte sie erbost und doch ermattet. »Müsste kämpfen, doch er ist so unentschlossen! Er betrachtet diesen Emporkömmling noch immer wie einen Freund. Wieso glaubt er bloß nicht an die eigenen Fähigkeiten? Er studierte das Militärwesen doch von Kindesbeinen an. Er hat das Exerzieren förmlich mit der Muttermilch eingesogen. Friedrichs Schlachtenbücher – auswendig gelernt hat er sie! Wie kann er nur sagen, er verstünde nichts vom Kriegführen? Sicher, im Reiten ist er nicht sehr gut ... aber das müsste er als Feldherr doch gar nicht, was meinen Sie? Warum steht er nicht wie Napoleon auf den Hügeln und schaut dem Treiben von oben herab zu? Warum müssen die preußischen Generäle nur immer im Kugelhagel herumreiten?« Wir hofften und bangten, doch es schwante uns bereits, dass Hoffen und Bangen nicht der richtige Beginn einer Schlacht wären. War das Glück alles, worauf wir noch zählen durften, wenn wir Napoleon in die Schranken weisen wollten?
    In der überlieferten Geschichte war es übrigens der Wagen des Kammerherrn von Buch, in den die Königin umstieg, als ihr Feldwagen brach. Ihre Begleiterin, mit der sie daraufhin ganz allein zu ihrer Truppe fuhr, war die Gräfin Lysinka Tauentzien (vgl. Merete van Taack: Königin Luise. Tübingen 1978, S. 371).
    Napoleon in Potsdam und Berlin
    Gerardine erinnert sich an die Begegnung mit dem Kaiser 1806 in Potsdam: Jérôme und ich blieben erst einmal im kleinen, verwunschenen, herbstlich goldenen Kanzow an der friedlich westwärts ziehenden Havel, unweit des königlichen Sommerschlosses Paretz, wo unsere optische Fabrik inzwischen über zwanzig Familien Lohn und Brot gab. Unsere Kanzower Fabrikarbeiterinnen und -arbeiter und unsere heißgeliebten Besitzungen dem dahergelaufenen Erobererscheusal kampflos in den Rachen zu werfen wäre für uns nie infrage gekommen. Als Napoleon ins Potsdamer Stadtschloss einzog, diesen kolossalen Prunkbau, der von allen Schlössern noch am meisten den Geist Friedrichs des Einzigen atmete, waren wir jedoch unter denen, die ihn empfingen – später hieß es, er sei enttäuscht gewesen, nur gänzlich unbetitelte Leute vorzufinden. Es ist schon ein Graus, en passant bemerkt, was manchmal für ein Unsinn geschrieben und tradiert wird, wenn man der Überlieferung freien Lauf lässt! Waren wir etwa gänzlich unbetitelt? Die Familie meines Mannes zählte in Frankreich einst zum Hochadel und meine eigene war immerhin achtbar urmärkisch. Was war dagegen korsischer Kleinadel?
    Es traf mich wie ein Schock, als er mir vis-à-vis gegenüberstand, denn ich hatte einen überlegenen Imperator erwartet. Was ich sah, war ein mürrischer, vom Reisen entnervter Mann, keineswegs von überragender Statur. Schlechte Haltung und überhaupt nichts von dem Glorienschein, den alle Welt breitfaselte. Seine kühle, abweisende Art machte mir Angst. Er funkelte Jérôme an und sagte: »Der König schätzt Sie also so sehr, Monsieur de Lalande, dass er Sie um sich duldet. Haben Sie ihm etwa geraten, mich zu fliehen? Hat Seine Majestät etwa noch immer Angst vor le rasoir national? Wir gebrauchen es nicht mehr gegen das stockige blaue Blut an sich. Ich müsste mich schließlich selbst köpfen, wenn es anders wäre!« Was für ein Sarkast! Unser König hatte niemals auch nur den Anflug von Furcht vor dem Fallbeil. Wie sollte er? Er wäre überhaupt nicht auf die Idee gekommen, dass jemand Hand an ihn legen könnte. Hegte er insgeheim nicht noch immer fast freundschaftliche Gefühle für den Sieger? Trug er nicht aus der Ferne noch dafür Sorge, dass Napoleon in seinen Schlössern wie ein edler Gast behandelt wurde? Jérôme hatte natürlich schon immer ein Faible für Abenteurer und Luftikusse. Außerdem war er nun einmal Franzose. Irgendetwas an dem winzigen Korsen hatte ihn beeindruckt. Aber er äußerte im Wesentlichen meine Gedanken, als er antwortete: »Kaiserliche Majestät, glauben Sie mir, unser König denkt nicht im Traum daran, dass er und seine Gattin zu Gefangenen der Republik werden könnten. Man wird ihm Zeit geben müssen, sich in die neue Lage zu finden. Würden Majestät uns die Ehre geben, in ...« Nein! Er wollte den Kaiser tatsächlich nach Kanzow einladen! Sein
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