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Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Titel: Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler
Autoren: John Boyne
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mich zusammenfahren. Ich sah auf. Meine Hände hielten instinktiv die Tischkante gepackt und entspannten sich erst, als ich die hochgezogenen Schultern des Inhabers sah, der sich dann mit Kehrblech und Handfeger bückte, um die Scherben aufzufegen, und sich dazu das gut gelaunte, stichelnde Johlen der Leute vor der Theke anhören musste.
    »Das war nur ein Glas«, sagte mein Gegenüber, dem mein Schrecken aufgefallen war.
    »Ja«, sagte ich und versuchte, die Sache mit einem Lachen abzutun, was mir jedoch misslang. »Ich habe mich nur erschreckt, das ist alles.«
    »Waren Sie bis zum Ende dabei?«, fragte er. Ich sah ihn an, und er seufzte. »Tut mir leid, Junge. Ich hätte nicht fragen sollen.«
    »Ist schon gut«, sagte ich leise.
    »Ich hatte zwei Jungs draußen, wissen Sie. Gute Jungs, alle beide. Der eine hatte ein bisschen zu viel Unfug im Kopf, der andere war eher so wie Sie und ich. Ein Leser. Ein paar Jahre älter als Sie, würde ich sagen. Wie alt sind Sie? Neunzehn?«
    »Einundzwanzig«, sagte ich und empfand mein neues Alter zum ersten Mal bewusst.
    »Nun, unser Billy wäre heute dreiundzwanzig, und unser Sam würde bald zweiundzwanzig werden.« Mr Miller lächelte, als er die Namen aussprach, schluckte dann und sah weg. Der Gebrauch des Konjunktivs war zu einer weitverbreiteten Krankheit geworden, wenn das Alter von Kindern erörtert wurde, und viel mehr brauchte nicht gesagt zu werden. Wir saßen eine Weile schweigend da, und dann blickte er mich mit einem nervösen Lächeln an. »Sie sehen ein bisschen so wie unser Sam aus«, sagte er.
    »Tatsächlich?«, fragte ich, und sein Vergleich tat mir seltsam gut. Wieder betrat ich die Wälder meiner Fantasie. Ich kämpfte mich durch Ginster und Nesseldickicht, um mir diesen Sam vorzustellen, einen jungen Burschen, der Bücher mochte und dachte, dass er eines Tages wohl selbst gern welche schreiben würde. Ich sah ihn an jenem Abend, als er seinen Eltern verkündete, dass er sich melden und Billy anschließen wolle, bevor sie kämen, um ihn zu holen. Ich stellte mir die beiden Brüder vor, die sich im Ausbildungslager gegenseitig halfen, auf dem Schlachtfeld Mut bewiesen und heldenhaft in den Tod gingen. So war Sam, beschloss ich. So war William Millers Sam gewesen. Ich kannte ihn gut.
    »War ein braver Junge, unser Sam«, flüsterte mein Gegenüber nach einer Weile und schlug dann dreimal mit der flachen Hand auf den Tisch, als wollte er sagen: Genug davon. »Trinken Sie noch eins, mein Junge?«, fragte er und nickte zu meinem halb leeren Glas hin. Ich schüttelte den Kopf.
    »Noch nicht«, sagte ich. »Aber vielen Dank. Sie haben nicht zufällig eine Zigarette dabei?«
    »Natürlich«, antwortete er und fischte eine Blechdose aus der Tasche, die aussah, als hätte er sie schon seit seiner Kindheit, öffnete sie und gab mir eine von etwa einem halben Dutzend perfekt gerollter Zigaretten. Seine Finger waren schmutzig, die Falten auf seinem Daumen tief und dunkel. Der Mann verdiente seinen Lebensunterhalt fraglos mit körperlicher Arbeit. »Im Tabakladen gäb’s keine besseren, oder?«, fragte er und zeigte lächelnd, wie gleichmäßig sie gedreht waren.
    »Nein«, sagte ich und bewunderte sie. »Sie sind ein Könner.«
    »Nicht ich«, sagte er. »Die Frau rollt sie mir. Als Erstes jeden Morgen, während ich noch frühstücke, sitzt sie da in der Küche mit den Papierchen und der Packung Tabak. Kostet sie nur ein paar Minuten. Füllt mir die Dose und schickt mich los. Das ist ein Glück, was? Gibt nicht viele Frauen, die das tun.«
    Ich lachte und erfreute mich an der behaglichen Häuslichkeit in seiner Geschichte. »Sie sind ein glücklicher Mann«, sagte ich.
    »Und weiß ich das nicht?«, rief er und tat entrüstet. »Und was ist mit Ihnen, Tristan Sadler?«, fuhr er fort und gebrauchte meinen vollen Namen, vielleicht, weil ich zu alt war, um einfach »Tristan« genannt zu werden, aber noch zu jung, als dass er »Mr Sadler« hätte sagen wollen. »Sind Sie ein verheirateter Mann?«
    »Nein«, sagte ich und schüttelte den Kopf.
    »Aber Sie haben einen Schatz zu Hause in London, nehme ich an?«
    »Niemand Besonderes«, antwortete ich und wollte nicht zugeben, dass es eigentlich gar niemanden gab.
    »Da stoßen Sie sich wohl noch die Hörner ab«, sagte er mit einem Zwinkern, aber ohne die anzügliche Plattheit, mit der einige ältere Männer solche Bemerkungen machen. »Das kann ich Ihnen nicht verdenken, keinem von euch, nach allem, was ihr durchgemacht
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