Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Titel: Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler
Autoren: John Boyne
Vom Netzwerk:
habt. Ist noch Zeit genug fürs Heiraten und den Nachwuchs, wenn Sie älter sind. Aber, großer Gott, die Mädchen waren ganz begeistert, als ihr alle zurückgekommen seid, was?«
    Ich lachte. »Ja, so wird’s wohl gewesen sein«, erwiderte ich. »Ich kann’s nicht wirklich sagen.« Ich wurde allmählich müde. Die lange Reise und das Bier auf nüchternen Magen machten mich schläfrig und benommen. Noch ein Glas, das wusste ich, und ich war hinüber.
    »Haben Sie Familie in Norwich?«, fragte Mr Miller einen Moment später.
    »Nein«, sagte ich.
    »Sie sind das erste Mal hier?«
    »Ja.«
    »Urlaub machen, oder? Mal raus aus der großen Stadt?«
    Ich überlegte, bevor ich antwortete. Ich beschloss zu lügen. »Ja«, sagte ich. »Ein paar Tage Pause, das ist alles.«
    »Nun, da hätten Sie sich keinen schöneren Ort aussuchen können. Das kann ich Ihnen sagen«, erklärte er mir. »Ich bin hier aufgewachsen und alt geworden. Hab immer hier gelebt, als Junge und als Mann. Würde nirgends anders leben wollen und kann keinen verstehen, bei dem’s nicht so ist.«
    »Aber Sie kennen sich mit Akzenten aus«, sagte ich. »Da müssen Sie ganz schön herumgekommen sein.«
    »Nur als Kind. Ich höre den Leuten zu, das ist der Schlüssel. Die meisten Menschen hören nie richtig zu. Und manchmal«, sagte er und beugte sich vor, »kann ich sogar erraten, was sie denken.«
    Ich starrte ihn an und spürte, wie sich meine Miene leicht verhärtete. Unsere Blicke trafen sich, und es gab einen Moment der Spannung, der Herausforderung, in dem wir beide nicht wegsahen. »Können Sie das tatsächlich?«, fragte ich endlich. »Dann wissen Sie also auch, was ich jetzt denke, Mr Miller?«
    »Nicht, was Sie denken, mein Junge, nein«, sagte er und hielt meinem Blick immer noch stand. »Aber was Sie fühlen? Ja, ich glaube, das kann ich sagen. Dazu muss ich keine Gedanken lesen können. Da reichte ein Blick, als Sie zur Tür hereinkamen.«
    Er schien das nicht weiter ausführen zu wollen, und so blieb mir keine Wahl, als ihn zu fragen, obwohl doch alles in mir danach schrie, es nicht zu tun. »Und was wäre das, Mr Miller?« Ich versuchte, sachlich zu klingen. »Was empfinde ich?«
    »Zwei Dinge, würde ich sagen«, erwiderte er. »Zunächst mal Schuld.«
    Ich reagierte nicht, sondern sah ihn weiter an. »Und was noch?«
    »Na ja«, sagte er. »Selbsthass.«
    Ich hätte geantwortet, meinen Mund hatte ich bereits geöffnet. Was ich gesagt hätte, weiß ich nicht. Ich kam nicht dazu, denn in diesem Augenblick schlug Mr Miller erneut auf den Tisch und brach so die Spannung, die sich zwischen uns aufgebaut hatte. Er sah auf die Uhr an der gegenüberliegenden Wand. »Nein!«, rief er. »So spät kann es doch noch gar nicht sein. Da geh ich wohl besser nach Hause, sonst gibt’s ’n Höllenärger mit der werten Gattin. Genießen Sie Ihren Urlaub, Tristan Sadler«, sagte er und stand mit einem Lächeln auf. »Oder weswegen Sie auch immer hier sind. Und kommen Sie gut wieder nach London.«
    Ich nickte, stand aber nicht auf. Ich sah ihm nur nach, wie er zur Tür ging, sich kurz noch einmal umdrehte und mit erhobener Hand von J. T. Clayton verabschiedete, den Inhaber mit der Konzession, Bier und Alkohol auszuschenken, bevor er den Pub ohne ein weiteres Wort verließ.
    Ich warf einen Blick auf mein Buch, das mit dem Titel nach oben auf dem Tisch lag, und griff nach meinem Glas. Ich trank es aus und wusste, dass mein Zimmer nun endlich frei sein würde, aber ich wollte noch nicht zurück, und so hob ich die Hand Richtung Theke, und kurz darauf stand ein frisches Bier auf meinem Tisch. Mein letztes für den Abend, versprach ich mir.
    Mein Zimmer in Mrs Cantwells Pension, die berüchtigte Nummer vier, war ein öder Schauplatz für die offenbar dramatischen Vorgänge der vergangenen Nacht. Die Tapete, ein liebloser Druck mit herabhängenden Hyazinthen und blühenden Krokussen, gab Zeugnis von besseren Zeiten. Dort, wo das Fensterlicht direkt auf sie fiel, war sie stark verblichen, und der Teppich unter meinen Füßen war an einigen Stellen fast durchgelaufen. Ein Schreibtisch stand gegen die Wand gedrückt, und in der Ecke gab es ein Waschbecken mit einem frischen Stück Seife auf dem Porzellanrand. Ich sah mich um und genoss die schnörkellose englische Nüchternheit und etwas abweisende Funktionalität. Das Zimmer war eindeutig besser als mein Kinderzimmer, dessen Bild ich schnell wieder aus meinen Gedanken schob, aber weniger durchdacht als die von mir
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher