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Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Titel: Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler
Autoren: John Boyne
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Fragen stellen. Denen, die dabei waren, meine ich. Ich weiß, dass die meisten von Ihnen nicht gern über das Geschehene reden, doch er lässt nicht locker. Ich habe versucht, mit ihm darüber zu reden, aber es ist schwierig.« Sie zuckte mit den Schultern und wandte geschlagen den Blick ab. » Er ist schwierig«, verbesserte sie sich. »Es ist nicht leicht für eine Frau, allein mit einem Jungen wie ihm.«
    Jetzt wandte ich den Blick ab, weil mich die Vertrautheit ihres Tones verlegen machte. Ich sah aus dem Fenster. Ein großer Ahorn verdeckte die Sicht auf die Straße, ich starrte in sein dichtes Geäst, und eine weitere Kindheitserinnerung überraschte mich damit, wie schonungslos sie mir vor Augen trat. Ich sah meine jüngere Schwester Laura und mich Rosskastanien von den Bäumen entlang der Straßen um Kew Gardens sammeln, sah, wie wir sie aus der stacheligen Schale lösten, nach Hause trugen und auf Schnüre fädelten. Auch diese Erinnerung schob ich so schnell zur Seite, wie sie gekommen war.
    »Das macht mir nicht viel aus«, sagte ich und sah Mrs Cantwell wieder an. »Jungen in seinem Alter interessiert das. Er ist wie alt … siebzehn?«
    »Vor Kurzem geworden, ja. Er war geradezu wütend, als der Krieg letztes Jahr aufhörte.«
    »Wütend?«, fragte ich und legte die Stirn in Falten.
    »Es klingt lächerlich, ich weiß. Aber er hatte so darauf gebaut, auch noch loszukommen«, sagte sie. »Jeden Tag hat er die Zeitung studiert und verfolgt, wie’s um die Jungs hier aus der Gegend stand und wo sie drüben in Frankreich hinkamen. Ein paarmal hat er versucht, sich selbst zu melden. Er hat sich älter gemacht, aber sie haben ihn ausgelacht und zu mir zurückgeschickt, was, so wie ich es sehe, Sir, nicht richtig war. Ganz und gar nicht richtig. Er wollte doch nur seinen Teil beitragen, da mussten sie sich deswegen doch nicht über ihn lustig machen. Und seit alles zu Ende ist, nun, da denkt er, dass er was verpasst hat.«
    »Erschossen hätten sie ihn wahrscheinlich«, sagte ich, und meine Worte schnellten zwischen den Wänden hin und her. Wie Schrapnell spritzten sie um uns herum. Mrs Cantwell zuckte zusammen, sah aber nicht weg.
    »So wollte er es nicht sehen, Mr Sadler«, sagte sie ruhig. »Sein Vater war mit draußen, wissen Sie. Er ist sehr früh schon umgekommen.«
    »Das tut mir leid«, sagte ich. Der Unfall mit der Dreschmaschine traf es also nicht.
    »Ja, David war damals erst dreizehn, und noch nie hat ein Junge seinen Vater so geliebt, wie er es getan hat. Wenn ich ehrlich sein soll, glaube ich, dass er bis heute nicht darüber hinweggekommen ist. Es hat ihn beschädigt. Ich meine, das sieht man doch daran, wie er sich verhält. Er ist ständig so aufbrausend. Man kann kaum mit ihm reden. Wobei natürlich immer ich schuld bin. Worum es auch geht.«
    »Bei Jungen in seinem Alter ist das nun mal so«, sagte ich und wunderte mich darüber, wie reif ich klang, obwohl ich doch nur gerade mal vier Jahre älter war als ihr Sohn.
    » Ich wollte natürlich, dass der Krieg ein Ende fand«, fuhr Mrs Cantwell fort. »Dafür gebetet habe ich. Ich wollte nicht, dass er ins Feld zog und wie Sie alle leiden musste. Ich kann mir ja nicht einmal vorstellen, wie schlimm es für Sie gewesen sein muss. Ihre arme Mutter muss außer sich gewesen sein vor Angst.«
    Ich zuckte mit den Schultern und veränderte die Geste schnell zu einem Nicken. Dazu wusste ich nichts zu sagen.
    »Trotzdem hoffte ein Teil von mir, ein kleiner Teil«, sagte sie, »dass ihm sein Wunsch erfüllt würde. Nur für eine Woche oder zwei. Ohne dass er in eine Schlacht geriet. Ich hätte nicht gewollt, dass ihm etwas zustößt. Aber eine Woche mit den anderen Jungs hätte ihm vielleicht gutgetan. Und dann Frieden.«
    Ich wusste nicht, ob sie den Frieden in Europa meinte oder den in ihrem eigenen kleinen Stück England, aber ich sagte nichts.
    »Nun ja, jedenfalls wollte ich für ihn um Entschuldigung bitten«, sagte sie, »und jetzt lasse ich Sie mit Ihrem Tee allein.«
    »Danke, Mrs Cantwell«, sagte ich, brachte sie zur Tür und sah zu, wie sie den Gang hinunterhastete und an dessen Ende nach rechts und links sah, als wüsste sie nicht, wohin sie sich wenden musste, obwohl sie doch wahrscheinlich den Großteil ihres Erwachsenenlebens hier verbracht hatte.
    Ich trat zurück in mein Zimmer, schloss die Tür hinter mir und aß mein Sandwich. Langsam und bedächtig tat ich das, um meinen geschwächten Magen nicht aus dem Gleichgewicht zu bringen,
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