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Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler

Titel: Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler
Autoren: John Boyne
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nippte an meinem Tee, der heiß, süß und stark war, und begann, mich nach und nach wieder wie ich selbst zu fühlen. Draußen auf dem Gang war gelegentlich eine Bewegung zu hören, die Wände meines Zimmers schienen papierdünn, und ich beschloss, mich schlafen zu legen, bevor meine Nachbarn in Zimmer drei und fünf nach Hause kamen. Ich konnte es nicht riskieren, lange wach zu liegen: Es war wichtig, den Tag, der vor mir lag, ausgeruht zu beginnen.
    Ich stellte das Tablett zur Seite, zog das Unterhemd aus, trat ans Waschbecken und wusch Gesicht und Oberkörper mit kaltem Wasser, das mir gleich auf die Hose tropfte. Also schloss ich die Vorhänge, löschte das Licht und zog mich nackt aus. So wusch ich auch den Rest von mir, so gut es ging. Auf dem Bett lag ein frisches Handtuch aus der Art Material, die sehr schnell nass wird. Wie es uns an unserem ersten Tag in Aldershot gezeigt worden war, rieb ich mich damit ab, bevor ich es zum Trocknen über den Rand des Waschbeckens hängte. Sauberkeit, Hygiene, Gründlichkeit bis ins Detail – die Anforderungen an einen guten Soldaten, das alles war mir in Fleisch und Blut übergegangen.
    In einer Ecke des Zimmers stand ein großer Spiegel, und ich stellte mich davor und betrachtete meinen Körper mit kritischem Auge. Meine Brust, die in meiner späten Jugend noch gut geformt und muskulös gewesen war, hatte in letzter Zeit etwas von ihrer Straffheit verloren und wirkte blass. Meine Beine waren voller Narben, rot und fahl, und über den Bauch zog sich ein langer dunkler Fleck, der nicht weggehen wollte. Ich fühlte mich schrecklich unansehnlich.
    Ich wusste, ich war nicht immer so hässlich gewesen. Früher einmal hatten die Leute mich für gut aussehend gehalten und mir gegenüber nicht selten entsprechende Bemerkungen gemacht.
    Diese Gedanken brachten mir Peter Wallis in Erinnerung. Als Jungen waren Peter und ich die besten Freunde gewesen, und mit dem Gedanken an ihn war ich auch gleich bei Sylvia Carter, deren Auftauchen in unserer Straße, als wir fünfzehn waren, mich letzten Endes daraus vertrieben hatte. Peter und ich waren unzertrennlich gewesen, er mit seinen pechschwarzen Ringellocken und ich mit meinem unbezähmbaren blonden Wuschel, der mir ständig in die Augen fiel, ganz gleich, wie oft mein Vater mich auf den Stuhl am Esstisch zwang und ihn mir mit seiner schweren Metzgerschere stutzte, mit der er sonst unten im Laden die Knorpel von den Koteletts schnitt.
    Sylvias Mutter beobachtete Peter und mich, wenn wir mit ihrer Tochter jugendlich verbunden die Straße hinunterliefen, und sorgte sich fraglos, in was für Schwierigkeiten sich Sylvia da wohl brachte, was sicher nicht unberechtigt war, denn Peter und ich waren in einem Alter, in dem es nur um Sex ging: Alles drehte sich darum, wie sehr wir es wollten, wo wir danach suchen sollten und was für schreckliche Dinge wir mit der Ärmsten anstellen würden, die uns ein entsprechendes Angebot machte.
    Während dieses Sommers wurden wir uns alle unserer sich verändernden Körper bewusst, besonders, wenn wir schwimmen gingen, und Peter und ich, die wir älter und selbstsicherer wurden, zogen Sylvias stichelnde Blicke auf uns und reizten sie zu koketten Bemerkungen. Als sie einmal mit mir allein war, sagte sie, ich sei der bestaussehende Junge, dem sie je begegnet sei, und ihr stellten sich die Nackenhaare auf, wenn sie mich aus dem Wasser steigen sehe, den Körper feucht glänzend, die Badehose schwarz und tropfend wie ein Otterfell. Ihre Worte erregten mich und stießen mich gleichzeitig ab, und als wir uns küssten, ich mit trockenen Lippen und unsicherer Zunge, sie das genaue Gegenteil, musste ich denken, wenn mich ein tolles Mädchen wie Sylvia attraktiv fand, dass ich dann vielleicht wirklich nicht so schlecht aussah. Der Gedanke begeisterte mich, aber dann lag ich abends im Bett und befriedigte mich mit schnellen, dramatischen Fantasien, die ich gleich wieder vertrieb. Ich stellte mir grelle Szenen vor, in denen Sylvia keinen Platz hatte, und hinterher, erschöpft und angewidert, rollte ich mich unter meiner verschwitzten Decke zusammen und schluckte meine Tränen herunter, während ich mich fragte, was mit mir nicht stimmte. Was zum Teufel war bloß los mit mir?
    Dieser Kuss blieb der einzige zwischen uns, und schon eine Woche später erklärten Sylvia und Peter, dass sie sich liebten und entschlossen hätten, einander ihr Leben zu widmen. Wenn sie alt genug wären, wollten sie heiraten. Ich war außer mir
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