Das spaete Gestaendnis des Tristan Sadler
Die Situation ließ mich an einen Soldaten denken, mit dem ich im Ausbildungslager Aldershot gewesen war und hinterher gemeinsam in Frankreich gekämpft hatte. Sparks hatte er geheißen und mir eines Abends, als wir gemeinsam Dienst hatten, eine absolut außerordentliche Geschichte erzählt. Wie er sagte, hatte er vier, fünf Jahre zuvor eines Nachmittags die Tower Bridge überquert und war genau in der Mitte von dem überwältigenden Gefühl ergriffen worden, in ebendiesem Moment die Hälfte seines Lebens hinter sich gebracht zu haben.
»Ich sah nach links«, erklärte er mir, »und nach rechts. Ich sah in die Gesichter der Leute, die an mir vorbeigingen, und ich wusste es, Sadler: dass das die Hälfte war. Und schon sah ich ein Datum vor mir, den 11. Juni 1932.«
»Aber dann bist du … Moment … noch nicht mal vierzig«, wandte ich ein.
»Und das ist noch nicht alles«, sagte er. »Als ich zurück nach Hause kam, habe ich einen Zettel genommen und ausgerechnet, wann tatsächlich der letzte Tag meines Lebens wäre, wenn das jetzt genau die Mitte gewesen sein sollte. Und du wirst nicht glauben, was dabei herausgekommen ist …«
»Das kann nicht sein!«
»Nein, es war tatsächlich nicht das richtige Datum«, sagte Sparks lachend. »Allerdings war es nahe dran. Nach meiner Rechnung wäre es im August 1932. Aber auch das wäre ein bisschen zu früh, oder?«
Er schaffte es weder bis zu dem einen noch bis zu dem anderen Datum. Kurz vor Weihnachten 1917 riss es ihm beide Beine ab, und er erlag seinen Verletzungen.
Ich schob den Gedanken an Sparks beiseite, ging weiter die zum Ende hin steil ansteigende Straße hinauf und fand mich schließlich an der Mauer von Norwich Castle wieder. Ich überlegte, ob ich mir die Schätze ansehen sollte, die es dort oben gab, entschied mich aber dagegen. Ich hatte plötzlich das Interesse verloren. Burgen wie diese waren die Überbleibsel militärischer Stützpunkte, in denen Soldaten gelagert und auf den Feind gewartet hatten. Davon hatte ich genug, und so wandte ich mich nach rechts und ging durch eine Straße mit dem ziemlich morbiden Namen Tombland, also Grabland, in Richtung des großen Turmes der Kathedrale.
Ein kleines Café kam mir in den Blick und machte mir bewusst, dass ich noch nicht gefrühstückt hatte. Statt also weiterzugehen, entschloss ich mich, etwas zu essen, und musste auf meinem Fensterplatz in der Ecke nur ein paar Augenblicke warten, bis eine Frau mit rosigen Wangen und einer Hochfrisur aus dickem rotem Haar kam, um meine Bestellung aufzunehmen.
»Nur etwas Tee und Toast«, sagte ich und war froh, einige Minuten sitzen zu können.
»Ein paar Eier dazu, Sir?«, schlug die Frau vor, und ich nickte schnell.
»Ja, danke. Rührei, wenn möglich.«
»Sehr gerne«, antwortete sie, nickte ebenfalls und verschwand hinter der Theke, während ich meine Aufmerksamkeit auf die Straße richtete. Ich bedauerte, mein Buch nicht mitgenommen zu haben, denn das wäre jetzt eine schöne Gelegenheit zum Entspannen gewesen, aber ich hatte es in meiner Tasche bei Mrs Cantwell gelassen, und so studierte ich denn die Passanten, die am Fenster vorbeieilten.
Es waren hauptsächlich Frauen mit Einkaufsnetzen zu sehen, die den Morgen für ihre Besorgungen nutzten. Ich dachte an meine Mutter und wie sie, als ich klein war, jeden Morgen die Betten gemacht und die Wohnung geputzt hatte, während sich mein Vater in seinen großen weißen Kittel gehüllt hinter die Theke des Ladens begeben und die frisch angelieferten Fleischstücke für seine Kunden zerlegt hatte, die innerhalb der nächsten acht Stunden zu ihm hereinkommen würden.
Ich hatte große Angst vor allem gehabt, was mit der Arbeit meines Vater zu tun hatte, vor den Ausbeinmessern, den Tierkörpern, den Knochensägen und Rippenziehern, und mit meiner Empfindlichkeit gewann ich nicht gerade seine Zuneigung. Später zeigte er mir, wie man die Messer richtig benutzte und die Schweine-, Schafs- und Rinderhälften zerlegte, die hinten im Kühlraum hingen und jeden Montagmorgen mit großem Gewese angeliefert wurden. Ich habe selbst nie eine solche Hälfte zerlegt, obwohl ich doch, was das Metzgerhandwerk betraf, eine solide Sachkenntnis gewann. Ich war nun mal nicht der geborene Metzger, ganz im Gegensatz zu meinem Vater, der ebenfalls in dem Laden aufgewachsen war, oder dessen Vater, der während der großen Hungersnot aus Irland hergefunden und es irgendwie geschafft hatte, genug Geld zusammenzukratzen, um das Geschäft zu
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