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Das Sonnentau-Kind

Das Sonnentau-Kind

Titel: Das Sonnentau-Kind
Autoren: Sandra Luepkes
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zu reden.
    «Lass mal, Aurel, du bist krank. Ich werde die Sache mit der Polizei schon erledigen.»
    «Nein, die Kinder warten auf mich. Dich haben sie nie gesehen. Sie sind krank, sie haben viel mitgemacht, du kannst kein Wort ihrer Sprache, Jakob, es ist nicht so einfach, ihr Vertrauen zu gewinnen …»
    «Was willst du denn machen? Schau dich an, du bist total fertig. Bestimmt wirst du krank. Ich werde ihnen schon irgendwie mitteilen, dass ich zu dir gehöre, dass ich dein Freund bin …»
    «Versprochen?»
    «Klar. Ich bringe dich mit dem Wagen zurück, dein Fahrrad holen wir später. Du musst dich hinlegen. Bestimmt bist du zu schnell gefahren, hast vor Aufregung nicht genug gegessen, und da klappt man schon mal zusammen.»
    «Ich habe ein Seil mitgebracht. Die Kinder, die selbst laufen können, sollen sich daran festhalten, damit sie zusammenbleiben und die Schwächeren mitziehen. Hier, nimm es!»
    «Mache ich!»
    «Bist ein echter Freund, Jakob. Wie gut, dass es Menschen wie dich und Annegret Helliger gibt.»
    Das war zu viel gewesen. Nur ein Satz von vielen, nur ein Fehler, ihn im selben Atemzug zu nennen mit dieser … Ja, was war Annegret Helliger in diesem Moment für Jakob gewesen? Eine Erscheinung, ein Vater, eine Mutter? Die Geliebte dieses Jungen? Die Schuldige an seinem Leid, von dem niemand etwas ahnte? Nachvollziehen konnte Jakob nicht genau, warum gerade in diesem Moment etwas in ihm zersprang. Ein Gefühl, als verlasse seine gute Seite durch einen freigesprengten Ausgang für einen Augenblick den Körper und überließ diesem fremden, bösen Jakob die Regie. Diesem Jakob, der noch immer dahockte, in der Enge seiner Kindheit, in diesem kleinen, schwitzigwarmen Nest der Mutterliebe, der noch immer nicht glaubte, dass Kanada weit genug entfernt war, um sich jemals frei zu fühlen.
    Und dann das Seil in der Hand, der Junge vor seinen Füßen schwärmte von Annegret, nannte sie einen guten Menschen, genau wie ihn – Jakob. Das Seil und die Augen, die hervortraten, als die Luft eng wurde. Die Spur, die der Körper machte, als er zum nächsten Baum gezogen wurde. Der Knoten, der sich so schwer hatte nachträglich binden lassen, sich dann aber doch zuzog, als er das andere Seilende über den Ast geworfen und nach unten gezogen hatte. Das ewige Röcheln des immer schwächer werdenden Jungen, schließlich die Ohnmacht. Die Anstrengung, einen Körper mit festgezurrtem Strick auf die Rückbank des Dienstwagens zu wuchten, dann das Rad auf die Ladefläche des Kombis, die kurze Fahrt zum Heiliger-Hof, die ewig währte. Der Plan – kurzfristig und genial –, ihn dort aufzuhängen, denn schließlich gab es doch diese Abschiedsbriefe, deren Wortlaut Aurel ihm vorhin fast auswendig aufgesagt hatte. Die letzten Bewegungen, eher Reflexe, denn eigentlich war Aurel schon längst nicht mehr bei Bewusstsein. Die Brille, die er ihm in die Brusttasche steckte, das Fahrrad, das er, weil es abgeschlossen war, tragen musste und unweit des Schuppens an einen Baum lehnte. Die erste Minute, nachdem alles geschafft war und er durchatmen konnte. Dann war der gute Jakob Mangold wieder in ihn zurückgekehrt und hatte ihn gelobt für die saubere Arbeit.
    Er war nahezu wehrlos gewesen. Es war nicht schwer gewesen, ihm das Seil um den Hals zu legen, ihn auf den Stuhl zu wuchten und fallen zu lassen. Natürlich, Jakob hatte geächzt und geflucht, als er sich der schwachen Gegenwehr entgegensetzen musste. Aber die Wut hatte ihm Stärke verliehen. Eine nie gekannte Stärke. Es hatte ihm nichts ausgemacht, das kurze Zappeln des Jungen am Seil zu beobachten. Erfreut hatte es ihn auch nicht. Es ließ ihn kalt. Er fühlte nichts.
    Und dieser Aurel konnte nun auch nichts mehr fühlen. Das war gut. Es gab Gefühle, die musste man abtöten. Die Liebe zu Annegret Helliger gehörte dazu.

A 31 kurz nach dem Emstunnel 210 km/h
    «Wir haben das Fahndungsobjekt gesichtet, er rast auf der A 31 in Richtung Süden. Momentan sind wir auf der Höhe Ausfahrt Papenburg. Scheint kein besonders guter Fahrer zu sein. Ende.»
    Axel Sanders hatte Wencke das Funkgerät aus der zitternden Hand genommen.
    «Bitte keine Verfolgungsjagd, am besten wäre es, ihr macht euch unsichtbar. Ende.»
    «Versuchen wir ja. Aber wir glauben, der Kerl hat unseren Wagen schon erkannt. Wir waren mit dem Kasten unterwegs und haben einen schönen Schnappschuss von eurem Missetäter gemacht. Und da war er natürlich schon gewarnt. Ende.»
    «Ist er schneller geworden?
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