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Das Schweigen

Das Schweigen

Titel: Das Schweigen
Autoren: Jan Costin Wagner
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ließ
    nach.
    Er stellte den Wagen unter der Überdachung ab,
    nahm die neuere seiner beiden Schaufeln und schippte
    den Schnee aus der Einfahrt.
    Er grüßte laut vernehmlich das Ehepaar, das im
    Nachbarhaus wohnte und an ihm vorbei spazierte. Die
    beiden wirkten überrascht, vermutlich weil Ketola
    manchmal vergaß zu grüßen. Die Tochter des Ehepaars
    war Ketolas Einschätzung nach etwa im gleichen Alter
    wie das ermordete Mädchen damals.
    Ketola stellte nach getaner Arbeit die Schaufel zurück
    an ihren Platz und ging zum Haus. Schloss die Tür auf,
    klopfte die Schuhe ab und trat ein. Er ging gleich in die
    Küche und kochte Kaffee, den er mit einem Schuss
    Kognak mischte.
    Dann setzte er sich auf das Sofa im Wohnzimmer,
    schaltete den Fernseher ein, stellte die Tasse auf dem
    Tisch ab und begann, zum ersten Mal seit recht langer
    Zeit und begleitet von einem Gefühl ausgesprochener
    Erleichterung, zu weinen.

8. JUNI

    I

    Timo Korvensuo spürte die Abendsonne, die warm und
    weit über ihm ruhte.
    Er beschleunigte seine Schritte, nahm die drei Holz-
    stufen zur Eingangstür mit einem Schritt und warf der
    Frau noch ein Lächeln zu, bevor er öffnete.
    »Ich könnte mir vorstellen, dass Sie es mögen«, sagte
    er und ließ dann den Effekt wirken.
    Die Frau hielt auf der Schwelle stehend inne, denn sie
    sah schon von hier aus durch die Wohnzimmerfenster
    die Sonne über dem See, und Timo Korvensuo wusste,
    dass sie in diesen Wochen, bei diesem Wetter und um
    diese Zeit immer in diesem ungewöhnlichen Winkel
    stand, von dem aus sie den See in ein fast unwirklich
    schönes Licht tauchte.
    Er hatte das Haus bislang acht Interessenten gezeigt,
    und obwohl noch keiner sich zum Kauf entschlossen
    hatte, hatte dieses Bild seine Wirkung nie verfehlt. Kor-
    vensuo stand neben der staunenden Frau und dachte,
    dass er dieses Haus mochte, und dass er es trotz der bau-
    lichen Mängel vielleicht selbst gerne gekauft hätte, wenn
    er nicht, zufälligerweise genau an diesem See, nur wenige
    Minuten entfernt, bereits ein Wochenendhaus besessen
    hätte. Nachher, nach Beendigung dieses letzten Termins
    an diesem Tag, würde er ganz gemächlich hinüber
    fahren und noch ein wenig Zeit für sich haben, bevor
    Marjatta, die Kinder und die Gäste ankommen würden.
    Vielleicht hätte er noch Zeit für einen Saunagang und
    einen Sprung ins Wasser.
    »Wollen wir uns das Innenleben dieses Schmuck-
    stücks ansehen?« fragte er die Frau.
    »Gerne«, sagte die Frau. »Ich glaube, es gefällt mir
    wirklich.«
    Korvensuo nickte und führte sie durch die Räume, die
    er wie immer gereinigt und so hergerichtet hatte, dass
    sie dem Betrachter gefallen mussten.
    Er verschwieg nie etwas, auch diese Interessentin
    klärte er während der Führung über jeden einzelnen
    Mangel auf, den dieses Haus aufwies, aber er achtete
    gleichzeitig darauf, dass sich die Objekte, die er zum
    Kauf anbot, von ihrer besten Seite zeigten. Und wenn
    die Besitzer selbst nicht in der Lage waren, dafür zu sor-
    gen, legte er eben selbst ein wenig Hand an. Bislang
    hatte sich kein Besitzer darüber beschwert.
    »Es ist ... ansprechend, trotz der Mängel. Ich werde
    darüber nachdenken«, sagte die Frau am Ende, und
    Korvensuo nickte.
    Sie gaben sich die Hand, und Korvensuo wartete, bis
    die Frau in ihren Wagen gestiegen und losgefahren war,
    bevor er selbst einstieg. Er war zufrieden. Er betrachtete noch eine Weile das Haus im Abendrot, das bald einen
    neuen Besitzer finden würde.
    Dann startete er den Wagen und fuhr auf die andere
    Seite des Sees zu seinem Anwesen. Wie er gehofft hatte,
    blieb ihm noch ein wenig Zeit, bevor hier der Lärm
    losbrechen würde. Die Kinder würden bester Laune
    sein, denn heute hatten die großen Sommerferien
    begonnen.
    Er freute sich auf das gemeinsame Wochenende, das
    erste seit längerer Zeit, er war in den vergangenen Wo-
    chen viel unterwegs gewesen. Aber an den Vortagen
    hatte er endlich zwei Objekte an den Mann gebracht, die
    ihm langsam zur Last geworden waren, und jetzt fühlte
    er sich befreit und beschloss, gar nicht erst ins Haus zu
    gehen und auch nicht in die Sauna, sondern sofort in
    den See zu springen.
    Er stieg aus dem Wagen und lief hinunter zum Steg.
    Er streifte die Kleider ab, legte alles so zusammen, dass
    es ein Rechteck ergab, stellte die Schuhe im rechten
    Winkel daneben, legte die Uhr in den linken und dann
    doch in den rechten Schuh, und sprang ins Wasser. Er
    ließ sich bis auf den Grund hinabsinken,
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