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Das Schweigen

Das Schweigen

Titel: Das Schweigen
Autoren: Jan Costin Wagner
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vorgehabt hatte,
    stand Ketola da und spürte, wie die Worte vor seinen
    Augen Gestalt annahmen, wie sie anschließend ver-
    schwammen und sich zu einem Gefühl verdichteten,
    nämlich dem Gefühl, dass Nurmeia hier gerade eine
    bestens vorbereitete, eine ihn von Herzen lobende und,
    wenn er ganz ehrlich war, eine geradezu berührende
    Rede hielt, aber das war nur ein Gefühl, denn als Nur-
    meia schließlich den letzten Satz gesprochen hatte,
    hätte Ketola kein einziges Wort mehr wiedergeben kön-
    nen. Das einzige, was Ketola unter diesen Umständen
    noch zu sagen hatte, war: »Danke.« Und als alle dastan-
    den und auf Weiteres zu warten schienen, sagte er noch
    einmal, etwas konkreter werdend: »Ich danke euch.«
    Wenig später machte Ketola sich auf den Weg.
    Kimmo, Niemi und Tuomas Heinonen waren losgefah-
    ren, um den Tod einer älteren Frau zu untersuchen, die
    am Fuße der Kellertreppe ihres Hauses gefunden wor-
    den war. Ketola ging mit Grönholm, der in sein Kran-
    kenbett zurückkehrte.
    »Schön, dass du da warst«, sagte Ketola. Ihm war
    schwindlig. Das Schneetreiben war unvermindert stark.
    »War doch selbstverständlich«, sagte Petri Grön-
    holm. Und als sie an Ketolas Wagen standen, sagte er
    noch: »Wir gehen davon aus, dass du uns regelmäßig
    besuchst.«
    Ketola nickte. »Gute Besserung«, sagte er, stieg ein
    und startete den Wagen. Ihm war wirklich schwindlig,
    aber er hatte natürlich auch jede Menge Sekt getrunken,
    der ihn regelrecht ein wenig berauscht hatte, was ver-
    wunderlich war, da Wodka und Whiskey dazu längst
    nicht mehr in der Lage waren.
    Ketola fuhr einen beträchtlichen Umweg. Er konnte
    sich zu seiner eigenen Überraschung noch genau an die
    Strecke erinnern, eine kaum befahrene Strecke, auch an
    diesem Tag, eine Strecke, die er sehr lange nicht mehr ge-
    fahren war. An der Stelle, an der sie damals das Fahrrad
    des Mädchens gefunden hatten, stand ein Kreuz. Es
    stand dort seit etwa zweiunddreißig Jahren.
    Während Ketola ausstieg und auf das Kreuz zuging,
    versuchte er, sich an diesen Tag zu erinnern, ihn wieder
    zu fassen zu kriegen, das Bild der Frau, in deren Augen
    er etwas hatte erlöschen sehen und die dann einfach los-
    gelaufen war, mit dem Kreuz, das wie vorbereitet, wie
    ein Regenschirm in einer Nische des Garderoben-
    schrankes gestanden hatte. Er und sein Vorgesetzter
    waren hinter der Mutter des Mädchens hergelaufen, und
    die Frau war nach einer Weile gerannt, bis sie genau an
    diese Stelle gelangt war, kaum fünf Minuten entfernt von
    dem Haus, in dem die Frau mit ihrer Tochter und ihrem
    Ehemann gelebt hatte. Der Mann war selten in Er-
    scheinung getreten. Ketola erinnerte sich in erster Linie
    daran, dass er seine Frau einige Monate, nachdem sie
    die Tochter gefunden hatten, verlassen hatte.
    Das Kreuz war also immer noch da. Ketola entfernte
    vorsichtig den Schnee und las den Namen, der auf dem
    Kreuz stand: Pia Lehtinen. Genau, so hatte sie geheißen.
    Im Wagen hatte er kurz darüber nachgedacht und ihm
    war nur der Nachname eingefallen. Dabei war der Vor-
    name ganz einfach und einprägsam und damals allge-
    genwärtig gewesen. Erstaunlich, dass es ihm gelungen
    war, ihn zu verdrängen. Pia Lehtinen, getötet 1974,
    stand auf dem Kreuz.
    Und fünf Minuten von hier, fünf Minuten entfernt
    von der Stelle, an der sie damals das Fahrrad gefunden
    hatten, wohnte die Mutter des Mädchens. Oder vielmehr
    hatte sie dort gewohnt, denn vermutlich wohnte sie dort
    nicht mehr, wie hätte diese Frau dort noch wohnen kön-
    nen nach diesem ... aber Ketola erinnerte sich jetzt sogar, dass er mit ihr damals kurz darüber geredet hatte, in den
    Monaten, in denen die Ermittlung noch in vollem
    Gang gewesen und man von einem Ermittlungserfolg
    ausgegangen war. Die Frau hatte angekündigt, keines-
    wegs umziehen zu wollen, sondern dieses Haus frühes-
    tens zu verlassen, wenn der Täter gefasst wäre. Was nie
    passiert war, und deshalb lebte die Frau dort vielleicht
    immer noch. Ketola erwog für einen Moment, die Frau
    aufzusuchen, ihr zu sagen, dass dies der Tag seiner Ver-
    abschiedung aus dem Dienst sei und er aus Gründen, die
    er nicht kannte, heute ausgerechnet an sie und ihre
    Tochter gedacht habe.
    Er verwarf den Gedanken natürlich und ging statt-
    dessen gleich zu seinem Wagen zurück. Falls die Frau
    noch hier wohnte, wollte er nicht von ihr gesehen wer-
    den.
    Er fuhr nach Hause. Es war noch Nachmittag, aber
    die Dunkelheit hatte eingesetzt. Der Schneefall
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