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Das Schweigen meiner Mutter

Das Schweigen meiner Mutter

Titel: Das Schweigen meiner Mutter
Autoren: Lizzie Doron
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schlug vor, einen so prachtvollen Stein zu setzen, dass niemand, der dort vorbeiging, ihn je vergessen würde. Erst nach ein paar Minuten fiel ihr auf, dass sie mit sich selbst sprach, und sie suchte nach einem Ausweg.
    »Also, wann treffen wir uns?«, fragte sie.
    Wir verabredeten uns zum Brunch im alten Hafen von Tel Aviv.
     
    Auch diesmal erschien Chajale in glitzernder Garderobe. Ich war beeindruckt davon, dass sie alle Gäste des Cafés kannte und selbstverständlich auch Schätzchen, den Kellner.
    »Pass auf meine Prada auf, bis das Essen kommt«, sagte sie und legte ihre prachtvolle Tasche auf den Tisch. »Im Laden gegenüber habe ich einen Rock gesehen, der nur für mich auf die Welt gekommen ist.« Sie verschwand. Nach kurzer Zeitkam sie mit einer Tüte zurück. Wie ihre anderen Sachen blendete auch dieser Rock, der nur für sie auf die Welt gekommen war, die Augen des Betrachters mit Pailletten, die glitzerten wie die Schuppen eines Fischs.
    »Herzlichen Glückwunsch«, sagte ich.
    »Glitzer macht mich fröhlich«, sagte sie. »Ich war jahrelang down, ich hatte schwarze Phasen. Mitten im Leben stürzte ich ab und hatte das Gefühl, dem Tod nah zu sein. Einfach so, ohne jeden Grund, hat mein Blutdruck verrückt gespielt, ich schwitzte, ich wurde ohnmächtig. Damals habe ich die Notaufnahmen aller israelischen Krankenhäuser kennengelernt, bis ich beschloss, Sabusch um Rat zu fragen. Weißt du noch, damals hat er immer Karottensaft getrunken.« Sie lachte. »Heute ist er Kardiologe. Er war es, der mir Bracha empfohlen hat, er hat sie gebeten herauszufinden, warum meine Mutter mit zwei Männern gelebt hat, warum sie es auf sich genommen hat, dass alle hinter ihrem Rücken gelacht und sie
kurve
genannt haben. Bracha hat mir eröffnet, dass meine Mutter vor dem Krieg mit Jissachar verheiratet war, nicht mit meinem Vater. Sie haben noch in Polen geheiratet, dort bekamen sie auch einen Sohn. Verstehst du? Meine Mutter war mit meinem Onkel verheiratet, ich hatte einen Bruder, der zugleich mein Cousin war.«
    Das bestellte Essen kam.
    Chajale probierte den Wein. »Ausgezeichnet«, sagte sie zu Schätzchen.
    Ich bekam nichts runter, Chajales Geschichte hatte mich völlig lahmgelegt.
    »Also, wo war ich? Ach ja. Dank Bracha weiß ich, dass Jissachar und meine Mutter von einem Versteck ins andere zogen und auch Jissachars Zwillingsbruder mitnahmen,Jona, meinen Vater. Ich weiß auch, dass Jissachar eines Tages loszog, um Essen zu suchen. Meine Mutter und mein Vater hörten Schüsse, und Jissachar kam nicht zurück. Am Schluss starb auch der kleine Junge, mein Bruder. Vermutlich ist er verhungert oder erfroren. Mein Vater und meine Mutter sind allein zurückgeblieben, sie sind nach Israel eingewandert, haben geheiratet, und dann kam ich auf die Welt.«
    Ich wollte etwas zum Verlust ihres Bruders sagen, wollte sagen, dass auch ich vermutlich einen Bruder gehabt hatte, aber plötzlich fühlte ich mich wie damals, als sie Klavier spielte oder tanzte und nichts von Brachas Shoah hören wollte.
     
    »Doch der arme Jissachar hatte leider überlebt«, fuhr Chajale mit ihrer Geschichte fort. »Nach dem Krieg blieb er noch einige Jahre in Polen und suchte dort seinen Bruder, seine Frau und seinen Sohn. 1956 kam er in Israel an, und hier fand er meine Eltern. Er erzählte ihnen, dass er damals, als er in den Wald gelaufen war, angeschossen wurde. Er war verletzt, schaffte es aber, zu entkommen und sich zu verbergen. Als er später zum Versteck zurückkam, waren die anderen schon nicht mehr da. Und so, nach Jahren, musste der arme Kerl feststellen, dass sein Bruder und seine Frau verheiratet waren und, was noch schlimmer war, dass sie mich hatten. Und noch viel schlimmer als das: Sein Sohn war tot. Seit der Wiedervereinigung unserer Familie hat Jissachar alle paar Tage versucht, sich umzubringen. Meine Mutter und mein Vater passten auf, dass er nicht starb. Auch Wollmann und deine Mutter halfen manchmal. Und ich«, sie seufzte und sprach plötzlich langsam und schwer weiter, »ich habe schon damals verstanden, dass ich   – obwohl mich alle drei liebten, obwohl ichfür meinen Vater und meine Mutter eigentlich ihr Leben reparieren sollte   – dass ich es war, ich höchstpersönlich, die allen dreien das Leben zerstörte.«
    Ihr stockte der Atem, sie konnte nicht weitersprechen.
    »Nur Radioapparate kann man reparieren«, sagte ich hilflos.
    »Wer weiß das besser als ich?« Sie lächelte gequält. »Ich glaube, ich habe erst
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