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Das Schweigen des Glücks

Das Schweigen des Glücks

Titel: Das Schweigen des Glücks
Autoren: Nicholas Sparks
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bleiben, wo sie aufgewachsen war, wäre unmöglich gewesen. Nach Kyles Geburt hatte sie das Geld, das ihre Mutter ihr hinterlassen hatte, gebraucht, um bei ihm zu Hause zu bleiben. Damals hatte sie geglaubt, es sei eine zeitlich begrenzte Arbeitspause. Wenn er ein bisschen älter war, so ihr Plan, wollte sie wieder als Lehrerin arbeiten. Das Geld würde ihr ausgehen und dann würde sie ihren Lebensunterhalt selbst verdienen müssen. Außerdem hatte ihr das Unterrichten großen Spaß gemacht. Schon nach einer Woche hatte sie ihre Schüler und Kollegen vermisst. Inzwischen waren Jahre vergangen, sie war immer noch zu Hause mit Kyle und die Welt der Schule war nichts weiter als eine vage und ferne Erinnerung, eher ein Traum als etwas Wirkliches. Sie konnte sich an keine Unterrichtsstunde, an den Namen keiner ihrer Schüler mehr erinnern. Wenn sie es nicht genau wüsste, würde sie steif und fest behaupten, sie hätte nie als Lehrerin gearbeitet.
    Die Jugend hält das Versprechen des Glücks bereit, aber das Leben die Wirklichkeit der Trauer. Ihr Vater, ihre Mutter, ihre Großeltern – alle tot, bevor sie selbst einundzwanzig war. In dem Alter war sie bei fünf verschiedenen Bestattungsinstituten gewesen, aber laut Gesetz war sie nicht alt genug, um in eine Bar zu gehen und in ihrem Kummer ein Gläschen zu trinken. Sie hatte mehr als ihren Anteil an Traurigkeit erlebt, aber Gott, so schien es, konnte es dabei nicht bewenden lassen. Wie die Qualen des Hiob hörten auch ihre nicht auf. »Ein ihrem Bildungsniveau entsprechender Lebensstandard?«
    Vorbei.
    »Freunde von früher?«
    Man muss sie hinter sich lassen.
    »Eine befriedigende Arbeit?«
    Zu viel verlangt.
    Und Kyle, der süße, wunderbare Junge, für den sie all dies auf sich nahm – in vielerlei Hinsicht war er immer noch ein Geheimnis für sie.
    Statt als Lehrerin zu arbeiten, bediente sie abends in einem Diner mit dem Namen »Eights«, einem gut besuchten Lokal am Ortsausgang von Edenton. Der Besitzer, Ray Toler, war ein Schwarzer um die sechzig, der das Lokal seit dreißig Jahren führte. Er und seine Frau hatten sechs Kinder großgezogen, die alle auf dem College gewesen waren. Kopien ihrer Abschlusszeugnisse hingen an der Wand und alle, die dort essen gingen, wussten darüber Bescheid. Dafür sorgte Ray. Er sprach auch gern über Denise. Sie war die Einzige, so erzählte er oft, die mit ihrer Bewerbung einen Lebenslauf eingereicht hatte.
    Ray verstand, was es bedeutete, arm zu sein, er war ein Mann, der Freundlichkeit zeigen konnte und der wusste, wie schwer das Leben für allein erziehende Mütter war. »Hinter der Gaststube ist ein kleines Zimmer«, sagte er, als er sie einstellte. »Sie können Ihren Sohn mitbringen, solange er Ihnen nicht zwischen den Füßen rumläuft.«
    Tränen traten ihr in die Augen, als er ihr das Zimmer zeigte. Es standen zwei Betten darin, es gab ein Nachtlicht, es war ein Raum, in dem Kyle sicher schlafen konnte. Als sie am nächsten Abend mit ihrer Schicht anfing, legte sie Kyle in dem kleinen Zimmer schlafen; Stunden später lud sie ihn in ihr Auto und nahm ihn mit nach Hause. Seitdem hatte sich an diesem Ablauf nichts geändert.
    Sie arbeitete an vier Abenden in der Woche eine Fünf-Stunden-Schicht und verdiente kaum genug, um davon zu leben. Vor zwei Jahren hatte sie ihren Honda verkauft und einen alten, aber zuverlässigen Datsun angeschafft und mit dem Differenzbetrag ihre Kasse aufgebessert. Dieses Geld, sowie alles, was ihre Mutter ihr hinterlassen hatte, war inzwischen längst ausgegeben. Sie war Meisterin im Haushalten, Meisterin im Sparen geworden. Seit dem vorletzten Weihnachten hatte sie sich keine neuen Kleider gekauft; ihre Möbel waren zwar ordentlich, aber sie stammten aus einem anderen Leben. Sie abonnierte keine Zeitschriften, sie hatte kein Kabelfernsehen, ihre Stereoanlage war ein altes Gerät aus Collegezeiten. Der letzte Film, den sie im Kino gesehen hatte, war »Schindlers Liste«. Sie führte selten Ferngespräche mit ihren Freunden. Sie hatte 238 Dollar auf der Bank. Ihr Auto war neunzehn Jahre alt und hatte so viele Meilen auf dem Buckel, dass es fünfmal dem Erdumfang entsprach.
    Nichts von alledem war jedoch wichtig. Allein Kyle war wichtig.
    Aber noch nie hatte er ihr gesagt, dass er sie liebte.
    Wenn Denise nicht im Diner arbeitete, saß sie abends gewöhnlich in dem Schaukelstuhl auf der hinteren Veranda mit einem Buch auf dem Schoß. Sie las gern draußen, wo das an- und abschwellende Zirpen der
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