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Das Schweigen des Glücks

Das Schweigen des Glücks

Titel: Das Schweigen des Glücks
Autoren: Nicholas Sparks
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darauf gerichtet. Dann sprach er wieder.
    »Dünfuseu.«
    Sie seufzte. »Ja, es ist ein Düsenflugzeug.«
    »Fuseu.«
    Sie sah sein Gesicht an, so vollkommen, so bildschön, so
normal.
Mit dem Finger drehte sie sein Gesicht zu sich her.
    »Auch wenn wir draußen sind – wir müssen trotzdem üben, okay?… Du musst das tun, was ich sage, sonst gehen wir ins Haus, zu deinem Stuhl. Das willst du doch nicht, oder?«
    Kyle mochte seinen Stuhl nicht. Wenn er erst einmal angegurtet war, konnte er nicht mehr raus und kein Kind, Kyle eingeschlossen, mochte das. Doch Kyle, voller Konzentration, ließ sein Spielzeugflugzeug weiter vorwärts und rückwärts fliegen und richtete es an dem vorgestellten Horizont aus.
    Denise versuchte es noch einmal.
    »Sag: ›Ich sehe kein Boot.‹«
    Nichts.
    Sie zog eine Süßigkeit aus der Tasche.
    Kyle sah sie und griff danach. Sie hielt sie so, dass er nicht rankam.
    »Kyle? Sag: ›Ich sehe kein Boot.‹«
    Er wisperte: »I se tei Boo.«
    Denise beugte sich zu ihm hinüber und küsste ihn und gab ihm die Süßigkeit.
    »Sehr gut, Schatz, sehr gut. Das hast du gut gemacht! Du machst das sehr gut!«
    Kyle ließ ihr Lob über sich ergehen und aß seine Süßigkeit, dann nahm er sich wieder sein Flugzeug vor. Denise vermerkte seine Worte in ihrem Notizbuch und fuhr mit der Übung fort. Sie sah hoch und überlegte, was er an dem Tag noch nicht gesagt hatte.
    »Kyle, sag: ›Der Himmel ist blau.‹«
    Ohne zu zögern sagte er:
    »Fuseu.«
    Sie saßen immer noch im Auto, noch zwanzig Minuten bis nach Hause. Sie hörte, wie Kyle sich in seinem Sitz bewegte, und warf einen Blick in den Rückspiegel. Bald war es wieder still im Auto und sie gab sich Mühe, keinerlei Geräusche zu machen, bis sie sicher war, dass er wieder eingeschlafen war.
    Kyle.
    Der Tag davor war typisch gewesen für ihr Leben mit ihm. Ein Schritt vor, ein Schritt zurück, zwei Schritte zur Seite, ein ständiges Ringen. Er konnte mehr als früher, aber er war immer noch viel zu weit zurück. Würde er je aufholen?
    Draußen standen dunkle Wolken am Himmel, der Regen fiel ohne Unterlass. Auf dem Rücksitz träumte Kyle, seine Augenlider zuckten. Wie seine Träume wohl aussahen, fragte sie sich. Waren sie tonlos, wie ein Stummfilm, der in seinem Kopf ablief, nichts weiter als Bilder von Raumschiffen und Düsenjägern, die durch den Himmel kreuzten? Oder träumte er mit den wenigen Wörtern, die er kannte? Sie wusste es nicht. Manchmal, wenn er schlief und sie neben seinem Bett saß, stellte sie sich vor, dass er in seinen Träumen in einer Welt lebte, wo jeder ihn verstand, wo die Sprache wirklich war, vielleicht nicht Englisch, aber eine Sprache, die für ihn einen Sinn ergab. Sie hoffte, dass er davon träumte, mit anderen Kindern zu spielen, mit Kindern, die auf ihn reagierten, die nicht vor ihm zurückschraken, weil er nicht sprechen konnte. In seinen Träumen war er, so hoffte sie, glücklich. Das wenigstens konnte Gott tun, oder?
    Sie fuhr auf dem leeren Highway und war allein. Auch mit Kyle hinten im Auto – sie war dennoch allein. Sie hatte dieses Leben nicht gewählt, es war das einzige Leben, das ihr angeboten wurde. Sicher, es hätte alles noch schlimmer sein können, und sie bemühte sich, das nicht aus dem Auge zu verlieren. Aber die meiste Zeit war es nicht leicht.
    Hätte Kyle diese Probleme auch, wenn sein Vater da wäre? Wenn sie ganz ehrlich mit sich war, konnte sie nicht sicher sein, aber sie wollte es eigentlich nicht glauben. Sie hatte einmal einen von Kyles Ärzten gefragt und er hatte gesagt, er wisse es nicht. Eine ehrliche Antwort – eine, die sie erwartet hatte –, aber danach hatte sie eine Woche lang Schlafprobleme gehabt. Weil der Arzt die Idee nicht schlicht von sich gewiesen hatte, nistete sie sich in ihrem Kopf ein. War sie in irgendeiner Weise verantwortlich für Kyles Probleme? Diese Gedanken hatten zu weiteren Fragen geführt. Wenn nicht der fehlende Vater, war es vielleicht etwas, das sie in der Schwangerschaft falsch gemacht hatte? Hatte sie sich schlecht ernährt, sich nicht genügend geschont? Hätte sie mehr Vitamintabletten nehmen sollen? Oder weniger? Hatte sie ihm häufig genug vorgelesen, als er ganz klein war? Hatte sie ihn zu wenig beachtet, als er sie besonders nötig brauchte? Die möglichen Antworten auf diese Fragen waren schmerzlich und mit schierer Willenskraft verdrängte sie sie aus ihrem Kopf. Aber manchmal, zu später Stunde, kamen sie wieder. Wie eine Flechte, die sich
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