Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das schwarze Blut

Titel: Das schwarze Blut
Autoren: Jean-Christophe Grangé
Vom Netzwerk:
Wand und sagte: »Du hast hier eine Verabredung.«Keine Antwort.
Mit den Fingerrücken strich sie über die Tapete und wiederholte: »Ich weiß, dass du hier eine Verabredung hast. Mit ihm.«Schweigen, Dunkelheit.
Endlich ein Murmeln. Der Hauch einer Stimme: »Ich hab dich nicht gezwungen mitzukommen.«
Doch Khadidscha hörte nichts mehr: Sie schlief schon.
KAPITEL 93
    Vom Läuten der Glocken wachte sie auf.
    Tiefes, trockenes, sonnendurchflutetes Glockenläuten, das sie aufweckte, wie sie noch nie geweckt worden war. Sie setzte sich im Bett auf. Mark war schon fort. Umso besser.
    Sie dachte an ihre Nacht zurück und an das Unbehagen, das ihr davon geblieben war. Unmöglich konnte sie sagen, ob sie Mark liebte oder nicht. Auch nicht – erst recht nicht – nach dieser Nacht. Sie waren noch immer in dem Stadium, in dem sie sich am Rand des Abgrunds aneinander klammerten.
    Die Glocken schwangen im Licht, und ihr tönender Klang erfüllte den Himmel. Es war ja Sonntag, fiel Khadidscha wieder ein. Sie stieg aus dem Bett, streifte ihren Morgenrock über und blickte durch die zweiflügelige verglaste Balkontür.
    Nie hatte sie etwas so Schönes gesehen. Unter den elektrischen Leitungen hatte die Gasse sich in einen Strom aus Licht verwandelt. Der schwarze Lavastein war ein flüssiges, goldenes Funkeln. Und durch den Sonnenglast bewegte sich eine Armee von Gestalten im Gänsemarsch, Männer, vorwiegend aber Frauen, die Mehrzahl von ihnen alt, klein und schwarz gekleidet, die wie ein Trauerzug von Ameisen zur Kirche auf dem Platz am Ende der Gasse trotteten.
    Auf einmal hatte sie Lust, die Messe zu besuchen. Khadidscha war nicht religiös, sie fühlte sich dem Islam ihrer Vorfahren nicht näher als irgendeiner anderen Religion. An diesem Tag aber wollte sie in der kühlen Weite eines Kirchenschiffs sitzen, Weihrauch einatmen, das Wehen schwarzer Frauenschleier fühlen.
    Sie zog einen Pullover, einen Rock an, schlüpfte in ihre Stiefel. Sie holte ihren Mantel, griff nach dem Schlüssel und ging zur Tür.
    In dem Moment, als sie die Hand auf den Knauf legte, läutete das Zimmertelefon.
Khadidscha zuckte zusammen: Wer konnte unter dieser Nummer anrufen?
Sie hob den Hörer ab und murmelte ein zögerndes »Hallo?«.
»Khadidscha? Ein Glück, dass ich Sie erreiche!«
Sie erkannte Solin, den Polizisten mit dem Allerweltsgesicht. Doch seine Stimme passte so wenig zu diesem Augenblick, dass sie zuerst nicht verstand, was er ihr erzählte.
»Was haben Sie gesagt?«
Sie wandte sich zum Fenster: Der Zauber war verflogen. Die Glocken, die Witwen, der Sonnenglanz – das alles war mit einem Schlag dahin, verloren, für sie nicht mehr erreichbar.
»Es ist verrückt«, wiederholte der Polizist. »Wir haben die Leiche gefunden.«
»Wie bitte?«
»Jedenfalls so gut wie. Wir haben eben die Ergebnisse der Untersuchungen bekommen, die Michel vor seinem Tod angeordnet hat. Es gibt nämlich in dieser Fabrik auch eine Verbrennungsanlage, und Michel hat die Asche aus jener Nacht analysieren lassen – nur für den Fall. Die Untersuchungen haben ziemlich lang gedauert – irgendwelche technischen Komplikationen, ich hab’s nicht so genau verstanden. Jedenfalls haben wir jetzt die Gewissheit, dass in der besagten Nacht ein Mensch in der Anlage verbrannt ist. Und die DNAUntersuchungen sagen, dass es kein anderer als Reverdi ist. Wir haben den Fluss völlig umsonst abgesucht. Er ist nie aus der Fabrik hinausgekommen. Er hat sich in den Ofen geflüchtet und sich dort in eine Ecke gekauert. Er ist bei lebendigem Leib verbrannt!«
Sie wollte etwas sagen, doch schon wieder verschlossen ihr die Heftklammern die Lippen. Und heulten lauter als ihre Stimme. Endlich brachte sie stammelnd heraus: »Aaaaaber … aaaaaber … was heißt das denn?«
»Dass es noch einen zweiten Mörder gibt. Einen Nachahmer, was weiß ich … Khadidscha? Sind Sie noch dran?«
Sie gab keine Antwort.
Ihr Gewicht verzehnfachte sich: Sie meinte, im Boden zu versinken.
»Sie müssen unbedingt sofort zurückkommen. Sie und Mark. Zwingen Sie mich nicht, vom Untersuchungsrichter einen internationalen Haftbefehl zu fordern – wir haben ein Abkommen mit Italien und können … Khadidscha? Was ist los?«
Nach langem Schweigen artikulierte sie klar und deutlich:
»Ich rufe Sie später wieder an.«
Sie legte auf.
Das war die einzige Bewegung, deren sie fähig war. Ihr ganzes Wesen hatte sich in erstarrte Lava verwandelt.
Vor sich sah sie die Ritzen der zweiflügeligen Glastür: sorgfältig
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher