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Das schwarze Blut

Titel: Das schwarze Blut
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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gelateria, suchte sich einen Tisch an einem der hohen weißen Fenster, atmete das intensive Kaffeearoma ein und versenkte sich in die italienischen Zeitungen, von denen sie nur jedes zweite Wort verstand.
    So entzifferte sie mühsam, aber hingerissen die Geschichte der Krankenschwester aus einem Vorort von Catania, die allgemein als Heilige galt, aber, wie jetzt herausgekommen war, ihren Gatten mit Salzsäure beseitigt hatte. Solange Khadidscha las, suchte sie keine Antworten mehr auf vergebliche Fragen wie: Was hatte sie hier verloren? Wie war sie nur auf die Idee gekommen, mit einem Mann zusammenzuleben, der ihr keinen Anflug von Zärtlichkeit, keinen Funken Aufmerksamkeit entgegenbrachte? Was wollte sie eigentlich – ihm helfen, den Teufel herausfordern oder einfach Punkte sammeln? Und er – welches Spiel spielte er?
    Eines Abends war es dann so weit. Nein, nicht Reverdi war es, der plötzlich auftauchte. Noch nicht. Sondern Mark: in der Verbindungstür zwischen ihren Zimmern.
    Seit vier Tagen war sie nicht mehr abgeschlossen. Seit vier Nächten war Khadidscha im Zustand der Erwartung, halb hoffend, halb fürchtend, sie könnte sich öffnen. Sie ahnte, dass es passieren würde, passieren musste in dieser uralten, orakelbehafteten Stadt, die sich nicht damit begnügte, Ereignisse vorherzusagen, sondern sie provozierte. Einer schicksalhaften Stadt, in der Weltanschauungen ins Wanken geraten, Entscheidungen fallen, Menschen ihr Leben aufs Spiel setzen.
    Wortlos kam er zu ihr. Sie umschlangen einander mit merkwürdiger Vertrautheit, als hätten ihre Körper miteinander gesprochen, während ihre Lippen versiegelt waren. Khadidscha blieb trocken, wie immer, doch ihre Leiber vereinigten sich, ja sie verschmolzen geradezu: Sie spürte seine Muskeln, seine Knochen unter der Haut und dachte an flüssige Lava, zischend und brodelnd tief unten in den Erdspalten des Ätna. Der Schweiß umhüllte sie beide, netzte jeden Hohlraum, jede Lücke zwischen seinem Fleisch und ihrem, nässte ihre Schenkel, und ihr Geschlecht öffnete sich wie ein Krater. Sie befeuchtete ihre Finger mit Speichel und schob sie in sich hinein. Aus dem indischen Feuer wurde ein Lavastrom.
    Mark schlief mit ihr so, wie er die vergangenen Wochen gelebt hatte, mit zusammengebissenen Zähnen, in sein Schweigen eingemauert. Khadidscha empfand nicht das geringste Lustgefühl. Doch sie begleitete ihn, wie sie ihn seit der Nacht mit Reverdi begleitet hatte. Ohne Liebe, nur mit einem fügsamen Wohlwollen, das von weit her kam. Noch mitten in der Liebe war sie die fürsorgliche Krankenschwester.
    Immer höher richtete Mark sich auf, krümmte sich über sie, seine Muskeln spannten sich, der Rhythmus seiner Hüften wurde schneller. Khadidscha war abwesend. Was hier stattfand, hatte mit ihr nichts zu tun. In den Bildern, die an ihr vorüberzogen, vermischte sich alles – die brennende Gestalt ihres Vaters, ihr Gehirn als Krake, der glühende Ätna … Und doch vergaß sie nicht, den Konventionen zu gehorchen, zu stöhnen, wie es sich gehörte, ihn zu liebkosen – während sie unter den Fingern die zahlreichen Narben an Marks Körper spürte. Das Einzige, was sie ihm verweigerte, war ihr Mund, der noch zu sehr schmerzte. Nicht ein einziges Mal hatte sie ihn geküsst, und merkwürdigerweise empfand sie darüber Erleichterung.
    Auf einmal erstarrte er, halb aufgerichtet und gegen sie gestemmt, wie zurückgedrängt von einer Woge der Lust, die ihn auf Abstand hielt. Er knurrte, stöhnte – und ergoss sich endlich mit einem viehischen Röcheln, ganz untypisch für den Mark, den sie vom helllichten Tag und dem normalen Leben her kannte. Ermattet sackte er neben ihr nieder. Sie war nicht sicher, ob wenigstens er diesen Kampf als lustvoll empfunden hatte. Sicher war nur die totale, wunderbare Entspannung ihrer beider Körper, die sich jetzt über sie legte und ihnen endlich Frieden schenkte.
    Wie eine Offenbarung überkam sie die Erkenntnis, dass sie ohne weiteres hier sterben könnte, in dieser vom Feuer ausgestoßenen Stadt. Sie blickte dieser Möglichkeit ganz ruhig entgegen, wie dem logischen Ende eines Zyklus, aus dem sie nie hatte ausbrechen können. Ja, sie könnte hier sterben, an der Seite dieses Fremden, um den sie sich kümmerte, obwohl er an ihrer elenden Lage schuld war.
    Er rührte sich nicht mehr. Sie hörte ihn atmen. Kurze Atemstöße, in denen ein dumpfes Grollen mitschwang. Wie ein fernes, noch nicht endgültig abgezogenes Gewitter. Sie drehte sich zur
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