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Das schwarze Blut

Titel: Das schwarze Blut
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Belastungszeuge. Und es besteht noch immer die Gefahr einer Untersuchung.«
Er schloss seine Tasche, zog seine Jacke an. »Du bist nicht ganz auf dem Laufenden, Khadidscha«, sagte er. »Wir sind schon ein Stück weiter. Mein Anwalt hat mir diese ganzen Scherereien vom Hals geschafft. In Malaysia hätten sie mich vor Gericht stellen können. Hier in Frankreich bin ich ein Opfer. Ein Opfer! Und was den Belastungszeugen betrifft: Die Polizei hat meine Aussage. Ich wüsste nicht, was ich dem noch hinzuzufügen hätte. Außer dass ich Schiss habe.«
Er wandte sich zur Tür. Sie stellte sich ihm in den Weg. »Wo willst du hin? Ich hab ja wohl das Recht, das zu erfahren!«
»Sizilien.« In seinem Gesicht erschien ein triumphierendes Lächeln. »Dort kenne ich eine Ecke, in der mich der Saukerl bestimmt nicht finden wird.«
Blicke sind offene Bücher. Marks Blick war immer verschlossen gewesen, doch Khadidscha hatte gelernt, Indizien darin zu erkennen. Sie begriff seine wahren Absichten. Mark war nicht vor Reverdi auf der Flucht.
Im Gegenteil. Er wollte ihn auf ein Terrain locken, das er kannte.
Ihm eine Falle stellen.
Zu ihrer Verblüffung hörte Khadidscha sich sagen: »Ich komme mit.«
Jeder Herbst müsste so sein wie der Herbst in Sizilien. Das war ihr sofort klar, als das Flugzeug am Nachmittag des darauf folgenden Tages zur Landung ansetzte.
Die Maschine tauchte durch Wolkenschichten abwärts, richtete sich wieder auf und glitt dann in einem Bogen aus silbrigem, unbeschreiblich mildem Licht hinab. Durch das Fenster sah sie die durchscheinende, von Kupfertönen überstäubte Landschaft, in der hier und dort das glatte, indigoblaue Meer aufblitzte, sie sah zitronengrüne Ebenen, die nach der Sommerhitze wie ausgeblichen schienen, dazwischen Gebäude aus grauem Stein und vor allem Felsen, überall Felsen:
der Panzer der Insel. Ein schwarzer Stein, der hart und glatt zwischen verbranntem Gras hervorwuchs.
Catania.
Bis dahin hatte sie noch nicht einmal den Namen gehört. Doch als sie auf dem Asphalt der Landebahn stand und die Seeluft einatmete, diese Mischung aus Salz und Algen, fühlte sie sich sofort zu Hause. Und sie sagte sich, dass auch in einem der Länder ihrer Vorfahren der Herbst so sein müsse: dieser warmen Liebkosung gleich. Sie hatte nie einen Fuß nach Algerien oder Ägypten gesetzt, doch war es genau diese Art Herbst, den sie von Kindesbeinen an im Blut hatte.
Sogar das Taxi gefiel ihr: klein, grau, klapprig, von einer ihr unbekannten Marke. Es erinnerte sie an die Rostlauben, mit denen die Jugend von Gennevilliers zwischen den Wohnblocks herumgekurvt war, uralte Fiats und Ladas … Sie ließ sich in den Sitz sinken und lauschte mit seligem Erschaudern dem Quietschen der Federn.
Auf einmal war sie glücklich, trotz allem – der Flucht, der Gefahr, der Gewalt. Am Rand ihres Bewusstseins tauchte zaghaft ein Wort auf, das sie nie zu artikulieren gewagt hätte, nicht einmal für sich: »Flitterwochen« … Unterwegs wurde die Landschaft düsterer – eintönig, schwärzlich, unheimlich. Als wäre ein Aschensturm über sie hinweggefegt, hätte die Hügel mit einer grauen Kruste überzogen und alles Leben unter einer starren Schicht erstickt. »Was ist denn hier passiert?«
»Nichts Besonderes«, antwortete Mark, der zum Fenster hinausblickte. »Der Ätna ist nicht weit. Das sind Vulkanfelsen.« Erst jetzt sah sie ihn, den Vulkan.
Am Horizont ragte er auf: ein schwarzer Berg, der die Wolken an sich zu ziehen schien. Eine Auftürmung düsterer Stimmungen, wie ein Ort der Orakel und Mysterien. Ohne zu wissen, weshalb, hatte Khadidscha das Gefühl, als wehte ein Hauch der Antike sie an – eine uralte Geschichte, die sich, nach wie vor lebendig, in Symbolen und Botschaften niederschlug. Wieder kam ihr der Gedanke, dass Mark seinen Feind in dieses archaische Land locken wollte. Hatte er etwa die Absicht, Reverdi auf dem Gipfel des Vulkans zu stellen, zwischen giftigen Gasen? Welchen Vorteil hätte er sich davon versprochen? Sie dachte ans Meer, verwarf den Gedanken aber als noch absurder: Das Meer war ja Reverdis Element. Und die Stadt? Sie konnte sich jetzt schon das Gewirr mittelalterlich enger und dunkler Gassen vorstellen: Kannte sich Mark in dem Labyrinth so gut aus, dass er den Mörder hier zu bezwingen hoffte?
Unwillkürlich tastete sie in ihrer Handtasche nach ihrem Mobiltelefon. Vor der Abreise hatte sie heimlich Solin angerufen. Der hatte versucht, sie von der Idee abzubringen, doch sie erriet an seinem
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