Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das schwarze Blut

Titel: Das schwarze Blut
Autoren: Jean-Christophe Grangé
Vom Netzwerk:
sie allein zu Haus gewesen war, mit Türen geknallt und den Fernseher auf volle Lautstärke gestellt hatte, um die Schatten zu verscheuchen …Natürlich war niemand da.
Dann brach wieder die Stille über sie herein. Ein Knacken. Ächzen. Pulsieren. Eine Weile stand sie vor dem weißern Vorhang, der das Fenster verdeckte. Was, wenn er im Hof war? Wenn er sie durch einen Spalt beobachtete?
Khadidscha griff nach ihrem Schlüsselbund, holte die Taschenlampe aus dem Wandschrank mit dem Stromzähler und ging, ohne zu überlegen, barfuß, in Jeans und T-Shirt, hinaus.
Der Lichtstrahl der Lampe zitterte vor ihr auf dem Boden. Dumpf hörte sie die Schläge ihres Herzens. Sie dachte an Mark.
Sie konnte ihn nicht mehr verlassen. Jetzt nicht mehr. Sie hatte ihn seinem Wahnsinn überantworten wollen, aber wenn Reverdi lebte, war Mark nicht verrückt: sondern scharfsichtig.
Sie trat in den Hof hinaus. Im Vordergebäude brannte nirgendsein Licht. Sie richtete ihre Lampe nach links, zum Haustor. Niemand. Sie hörte nur den fernen Verkehrslärm, der in Paris niemals verstummt, und nahm diesen typischen Großstadtgeruch wahr, ein wenig säuerlich, voller Abgase, doch um diese Tageszeit weniger aggressiv – der Atem eines Schläfers.
    Khadidscha ließ die Lampe sinken. Sie hatte ihre Angst bezwungen. Es war alles nur in ihrem Kopf. Alles … Sie schrie auf, als sie Schritte hörte.
    Die Taschenlampe fiel ihr aus der Hand und rollte über den abschüssigen Boden davon. Die eisenbeschlagenen Kappen schwerer Schuhe hielten sie auf.
    »Mademoiselle Kacem? Capitaine Michel schickt uns.«Fünf Uhr morgens.
Die längste Nacht ihres Lebens.
Die Techniker waren mit ihrer Arbeit fertig: Sie hatten dieFestnetz- und Mobiltelefone und die Internetanschlüsse der beiden Computer mit ihrer Abhörapparatur verkabelt. Khadidscha hatte ihnen Kaffee gemacht – allmählich kannte sie sich mit der Maschine aus – und sie fortgeschickt. Zwei Beamte würden vor ihrer Tür Wache stehen.
    Erschöpft löschte sie alle Lichter und kroch unter ihre Decke. Sie schlief auf der Stelle ein.
Ein weiterer Anruf riss sie aus dem Nichts zurück. Innerhalb einer Sekunde war sie wieder hellwach. Sie griff nach dem Hörer.
»Hallo?«
Durch den Vorhangspalt drang Licht herein. Draußen war es hell geworden. Sie warf einen Blick auf die Uhr: halb zehn.
»Hallo?«, fragte sie noch einmal mit beklommenem Unterton.
»Madame Kacem? Ich bin Lieutenant Solin, wir haben uns im Polizeipräsidium getroffen, ich weiß nicht, ob Sie sich erinnern …«
»Ihre Leute waren schon hier.«
»Ich weiß, ja, tut mir sehr leid. Ich rufe Sie an, weil … Es ist etwas passiert … Ich … Nun, ich sag’s Ihnen besser gleich: Capitaine Michel ist tot.«
»Tttttttot?«
Sie konnte nicht mehr sprechen. Auf einmal waren ihre Lippen wieder mit Klammern zusammengeheftet, und sie brachte sie nicht auseinander.
»Wwwwwie … wwwwwie ist das geschehen?«
»Ich wollte ihn abholen, um acht Uhr. Bei ihm zu Hause. Und fand ihn … tot. Ermordet.«
»Bei ihm zu Hause?«
»Ich bin jetzt am Tatort. Zweifellos wurde er überfallen, als er von Ihnen zurückkam.«
Beißende, brennende Klammern im Fleisch. Die Lippen vernäht.
Sie zwang sich zu sprechen: »Von Reverdi ermordet?«
Am anderen Ende blieb es still. Schließlich sagte der Polizist leise: »Es ist zu früh, um schon etwas sagen zu können …«
»Wie ist die Adresse?«
Als hätte er nicht gehört, sprach er unbeirrt weiter: »… aber ja, es bestehen Gründe zu der Annahme …«
»WIE IST DIE VERDAMMTE ADRESSE?«
KAPITEL 90
    Die Blondheit des Polizisten war zerborsten.
Hatte sich ausgebreitet wie ein Sprühnebel, an den Wänden, der Decke, auf dem Teppichboden.
    Das war Khadidschas erster Gedanke, als sie die Wohnung betrat. Capitaine Michel hatte in einem modernen Gebäude in der Rue de la Convention gewohnt. Eine Dreizimmerwohnung mit quadratischen weißen Räumen, karg möbliert.
    Doch eines der drei Zimmer hatte sich verwandelt. Das Wohnzimmer war wie vergoldet.
Der Mörder hatte die Möbel beiseite geschoben und sein Opfermit nacktem Oberkörper in der Mitte des Raumes an einen Stuhl mit geflochtener Lehne gefesselt. Ringsum lagen überall kleine Barren Bienenwachs unterschiedlicher Größe, zwischen zwanzig und sechzig Zentimetern Länge, mit Kerzen darauf, von denen noch etliche brannten. Der Widerschein jeder Flamme fiel auf die Flanken der benachbarten Barren und zeichnete Furchen rötlichen Lichts.
    Khadidscha hatte das Gefühl, in einen
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher