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Das schwarze Blut

Titel: Das schwarze Blut
Autoren: Jean-Christophe Grangé
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Tonfall, dass Mark die Wahrheit gesagt hatte: Sein Anwalt hatte die Gefahr gerichtlicher Ermittlungen gegen sie beide definitiv abgewendet. Sie konnten sich frei bewegen.
Khadidscha hatte dem Polizisten versprochen, ihm gleich nach der Ankunft Telefonnummer und Anschrift des Hotels zu faxen.
Solin wiederum wollte sich mit der lokalen Polizei in Verbindung setzen, um sie auf alle Eventualitäten vorzubereiten.
Und wieder hatte sie den Unterton in seiner Stimme wahrgenommen, der ihr zu verstehen gab, dass die Polizei von Catania wahrlich anderes zu tun hatte.
Als sie in der Stadt eintrafen, umklammerte sie noch immer ihr Telefon.
    Spätestens am nächsten Tag verliebte sie sich endgültig.
    Verliebte sich in ihr Zimmer in einer altmodischen kleinen Pension am Ende einer Sackgasse, in der sie die einzigen Gäste waren. Verliebte sich in das Blümchenmuster der zerschlissenen Vorhänge und des Bettüberwurfs, in die Handtuchhalter und Wasserhähne aus altem Kupfer, in die grauen Dächer, die Kreuze auf den Kirchen – und sogar in die Satellitenantenne, die sich wie die Fänge eines Adlers an das schmiedeeiserne Geländer des Balkons gegenüber klammerte.
    Sie wagte sich in die Stadt. Sie erkundete breite Avenuen, schmale Gässchen, weite Plätze, das Straßenpflaster aus dunklem, warmem Stein, in dem tief innen noch ein uraltes Feuer zu brennen schien. Sie liebte diese braunen, holprigen Gehsteige, die aussahen wie mit dem Schmiedehammer bearbeitet, die dunklen Bruchsteinmauern, die Innenhöfe, die von erkalteter Lava eingefassten Gärten. Merkwürdigerweise verstärkte der Vulkanstein die Kontraste, unterstrich jedes Detail, ließ alles so scharf hervortreten wie mit farbiger Kreide auf eine Schiefertafel gezeichnet.
    Khadidscha begeisterte sich auch für das sizilianische Leben, die Betriebsamkeit der Stadt, die ihr laut und gedämpft, ungestüm und introvertiert zugleich erschien, für die rauchdunklen Plätze mit den Duftwolken der Verkaufsstände, wo es Panini, Grillspieße, gebratene Meeresfrüchte gab, für die antiken Statuen – verwitterte graue Figuren auf wackligen Sockeln, zwischen denen lachende Kinder Fangen spielten – und die Pflastersteine, die nach den seltenen, immer nur kurzen Regengüssen wie Silber glänzten.
    Ja, Khadidscha hatte sich in Catania verliebt. Auf ihren langen Spaziergängen vergaß sie nach und nach ihre Ängste und verdrängte die latente Bedrohung durch Reverdi ebenso wie Marks häufige Abwesenheiten. Jeden Morgen ließ er sie allein, um geheimnisvollen Beschäftigungen nachzugehen. Er hatte ein Auto gemietet und fuhr den ganzen Tag irgendwo außerhalb der Stadt herum. Wenn sie ihn fragte, wo er gewesen sei, erzählte er ihr etwas von Vorkehrungen, Auskundschaftung, Schutzmaßnahmen. Im Grunde war es Khadidscha egal. Arglos sagte sie sich, dass ihr eine Atempause vergönnt war, eine Oase des Friedens.
    Sogar die unterschwellige Gewalttätigkeit von Catania reizte sie. In der Stadt mit der höchsten Verbrechensrate Italiens gehörten Mord, Erpressung, Nötigung zur Tagesordnung. Und Warnungen wie der abgeschnittene Kopf, der eines Tages am Fuß der Garibaldi-Statue lag. Während gleichzeitig eine Bar in Trappetto Nord zum Schauplatz eines Massakers wurde.
    Stadt der Sonne und der Schatten: Catania war auch eine Hochburg der Mafia.
So verging eine Woche.
    Frühmorgens suchten Mark und Khadidscha regelmäßig ein Internetcafé auf – die eigenen Computer hatten sie absichtlich zu Hause gelassen. Dort lasen sie die Ausgaben der französischen Tageszeitungen, immer in der Hoffnung, auf die Nachricht von Reverdis Verhaftung zu stoßen. Oder wenigstens Neuigkeiten zu erfahren. Doch die Zeitungen schwiegen sich aus. Offensichtlich traten die Ermittler auf der Stelle.
    Mit jedem Tag, der verging, rückte das Pariser Leben in immer weitere Ferne. Sie hörte ihren Anrufbeantworter nicht mehr ab, kümmerte sich nicht um die Verträge, die ihr Agent für sie aushandelte. Sie war von allem losgelöst, auch von sich selbst. Sie lebte in der Schwebe, und daran war die Stadt nicht unschuldig. Es war eine Krankheit, die sie der Realität entfremdete; und eine Rekonvaleszenz, in der ihr alles unbestimmt und bedeutungslos schien.
    Das wahre Leben war hier, in dieser sizilianischen Stadt. Hier verwandelte ein Schauder der Erregung jeden Augenblick, jede Empfindung in klaren Kristall, fest wie der Zuckerguss auf den dicken cornetti, mit denen ihr Tag begann. Jeden Morgen setzte sie sich in eine
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