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Das Königshaus der Monster

Titel: Das Königshaus der Monster
Autoren: Jonathan Barnes
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PROLOG
     
    Während ich nun am Schreibtisch dieses Zimmers sitze, das Sie mir zur Verfügung gestellt haben, komme ich voller Grauen zu der Erkenntnis, dass mir tatsächlich nur noch sehr wenig Zeit bleibt. Draußen schwindet das Licht des Tages rasch dahin, und hier drinnen empfinde ich das Ticken der Uhr als geradezu ohrenbetäubend laut. Ich habe mich mit dem Umstand abgefunden, dass der Zeitraum zu kurz ist, um alles wie erhofft niederschreiben zu können – also eine klar umrissene, vollständige Geschichte des Krieges von seinem Ursprung in den Träumen des neunzehnten Jahrhunderts über die haarsträubenden Scharmützel damals in den besten Tagen meines Großvaters bis hin zur jüngsten katastrophalen Schlacht, bei der Sie und ich eine bescheidene Rolle spielten. Nein, ich muss mich einfach auf die Hoffnung beschränken, dass mir noch ausreichend Zeit bleibt, zumindest meine eigene Geschichte aufzuzeichnen – oder wenigstens so viel davon, wie mir noch in Erinnerung ist, bevor das Ding, das in mir schläft, erwacht, sich zu regen beginnt, die Muskeln spannt und mir mit einem trägen Schlag seines mächtigen Schwanzes keine andere Wahl lässt, als zu vergessen.
    Ich weiß, wo ich anfangen muss. Selbstredend war ich dabei nicht persönlich anwesend – ich war noch nicht einmal geboren –, aber ich bin überzeugt davon, dass es im Grunde dort begann. So klar kann ich es mir ausmalen, als würden die Geschehnisse über all die Jahre hinweg nach mir rufen und darum betteln, sie zu Papier zu bringen.
    Es ist vermutlich kein Zufall, dass ich in letzter Zeit ziemlich viel an die Wohnung in Tooting Bec denken musste – an das alte Haus, in dem ich mit Abbey glücklichere Tage verlebte und das auf eine eigentümliche Weise – jedoch ohne dass es mir damals bewusst gewesen wäre – stets Mittelpunkt der ganzen Angelegenheit war. Es wurde irgendwann in den späten Sechzigerjahren des neunzehnten Jahrhunderts erbaut, aber als ich dort wohnte, hatte ich den Kopf voll mit anderen Dingen, und so interessierte ich mich nie für seine Geschichte; Abbey tat es einmal, aber auf eine beiläufige, lauwarme Art – vermutlich von irgendeiner Fernsehshow auf den Gedanken gebracht. Was sie herausfand, wirkte ein wenig beunruhigend; dennoch entdeckte sie nie all das, was ich jetzt über das Haus weiß. Wie sollte sie auch? Das Direktorium hielt diese Aufzeichnungen eisern unter Verschluss, und jeder, der damals zugegen war oder irgendetwas wusste, ist schon lange tot.
    Es geschah spätnachts am 6. April 1967, lange bevor das Haus in Wohnungen aufgeteilt wurde und etwa zehn Jahre ehe ich das Licht der Welt erblickte: Eine lange schwarze Limousine hielt draußen am Straßenrand an. Obwohl der Frühling eigentlich in voller Blüte hätte stehen sollen, fühlte sich das Wetter seit fast einer Woche eher winterlich an, und jedermann hatte sich aufs Neue in die Tiefen seines Garderobenschrankes gewühlt und den dicken Mantel, die Mütze und den Schal hervorgeholt, von denen er gehofft hatte, sie erst im Oktober wiederzusehen.
    Seit Stunden regnete es, und im erbarmungslosen gelblichen Schein der Straßenbeleuchtung glänzten und glitzerten die Straßen wie mit Fett beschmiert. Keine Seele war draußen unterwegs, und die einzigen fernen Geräusche stammten von einem quengelnden Baby und kläglich winselnden Großstadtfüchsen, die auf der Suche nach Fressbarem durch die Dunkelheit trotteten und Unrat und Abfälle durchstöberten, welche von der Menschheit so achtlos hinterlassen worden waren.
    Die Tür des Wagens öffnete sich, und ein hochgewachsener Mann schob sich vom Fahrersitz und entfaltete seine langen Beine. Obwohl nicht mehr ganz jung, konnte man ihn immer noch gut aussehend nennen, wenngleich seine Gesichtszüge ein gewisses Maß an Brutalität und Gerissenheit erahnen ließen. Er war in Begleitung einer Frau in etwa dem gleichen Alter, doch im Gegensatz zu ihm bewegte sie sich wie jemand weitaus Betagteres – eine zerbrechliche, altjüngferliche Person, gealtert Jahrzehnte vor ihrer Zeit. Die Mienen der beiden sprachen von stoischem Professionalismus, gemischt mit (und ich denke, das müssen wir ihnen zugutehalten) einer Art angewiderter Ungläubigkeit über die unzumutbaren Anforderungen ihres Berufes.
    Es war noch eine dritte Person im Wagen; eine Frau, offenbar so betrunken, dass sie sich hart am Rande der Besinnungslosigkeit befand, lehnte völlig erschlafft auf dem Rücksitz. Sie war sehr jung und eine
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