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Das schönste Wort der Welt

Das schönste Wort der Welt

Titel: Das schönste Wort der Welt
Autoren: M Mazzantini
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Das Licht seiner besten Fotos.
    Pietro wirft einen
Blick in die Runde. Er ist schneller als ich, er ist schon oben.
    »Sei vorsichtig!«
    Ich habe Angst, Angst.
    »Hier ist nichts!«,
schreit er.
    Als ich ankomme,
wiederholt er leise: »Hier ist nichts, Ma.«
    Was hatte er
erwartet? Ein Heiligtum? Einen Grabstein? Einen an den Klippen zerschellten
Fotoapparat?
    Ich bin verschwitzt
und alt, er ist jung wie eine der hier herumfliegenden Möwen. Wir setzen uns
und schauen aufs Meer, das wirklich unendlich zu sein scheint. Pietro legt
seinen Arm um meine Schulter. Es ist wohl das erste Mal, dass er mich
beschützt. Dann drückt er mir etwas in die Hand, mit einer seiner ruppigen
Bewegungen. Mir zittert das Kinn.
    »Die Verpackung ist
zum Kotzen«, sagt er.
    Ich öffne die rote,
zerknitterte Tüte, die er offenbar schon ewig mit sich herumträgt, seit dem
Abend am Brunnen. Es ist eine Anstecknadel, eine filigrane, silberne Rose. Es ist
die aus dem Schaufenster in der Baščaršija.
    »Gefällt sie dir?«
    »Ja.«
    »Wusste ich doch,
dass sie dir gefällt.«
    Er stöbert im
Gestrüpp herum, kommt mit einem Stock wieder und bricht ihn über dem Knie
entzwei. Er baut ein Kreuz und versucht, es mit Grashalmen zusammenzubinden,
doch sie halten nicht. Also zieht er das Halstuch heraus, das er in der Tasche
hat, und verknotet es mit den Stockenden. Er rammt das Kreuz in den Boden.
    »Wie lange wird das
halten?«
    Bei dem Wind …
    Pietro gibt mir sein
Handy und bittet mich, ihn mit dem Kreuz zu fotografieren.
    Wir plaudern ein
bisschen.
    »Was soll ich mal
werden, wenn ich groß bin, Ma?«
    »Was willst du denn
werden?«
    »Keine Ahnung.«
    »Du spielst doch gern
Gitarre, vielleicht wirst du ja Musiker.«
    Er sagt, er würde
gern eine Hotelkette mit sieben Sternen aufmachen. Er möchte die größte Suite
der Welt entwerfen, mit einem Golfplatz darin, der achtzehn Löcher hat.
    Dann sieht er mich
an.
    »Ich weiß, warum Papa
hier hochgeklettert ist.«
    Er hebt die Hand und
zeigt aufs Meer.
    »Weil man von hier
aus Italien sehen kann.«
    Er lächelt.
    »Er hatte Sehnsucht
nach uns, Ma.«
    Aska ist unter dem
Laubendach geblieben, sie hatte nicht den Mut, zu uns zu kommen. Sie hat sich
die Haare gewaschen und lässt sie an der Luft trocknen. Ich habe gesehen, wie
sie umherlief, den Tisch deckte und sich bückte, um ein Spielzeug ihrer Tochter
aufzuheben. Eine Frau wie ich.
    Jetzt sieht sie uns
entgegen.
    Auf dem Land brachten
viele Frauen diese Kinder um, die Mütter halfen ihren Töchtern, sie
loszuwerden. Aus friedlichen Frauen waren verzweifelte Mörderinnen geworden.
Aska ging in eines der Hilfszentren für kriegszerstörte Frauen, doch erst als
ihre Tochter zur Welt kam, erst als ihr Körper sich ein zweites Mal öffnete und
Gojko und sie lange weinten und sich gegenseitig hielten, erst da spürte sie,
dass der Hass sich von ihr löste wie der unnütze Sack der Plazenta.
    Aska hält den Kopf
gesenkt, mit einer Hand lockert sie ihre nassen Haare auf.
    Beim Näherkommen sehe
ich diese Bewegung, die sie wiederholt, sehe, wie ihr Gesicht verfällt, sehe
ihren Mund, der sich öffnet und wieder schließt.
    Pietro hat die Augen
auf dem Handy, ich stoße ihn an.
    »Das ist Aska, Gojkos
Frau.«
    Pietro schaut mit
seinen tiefblauen Augen auf. Er lächelt, legt die mageren Wangen in Falten und
streckt seine Hand aus.
    »Ciao, Pietro.«
    Aska hält diese Hand
fest. Sie schafft es nicht, sie loszulassen.
    Also rückt Pietro mit
dem Oberkörper und dem Kopf näher. Er küsst Aska links und rechts auf die
Wange. Da öffnet sie die Arme und zieht ihn an sich.
    Ich sehe zu, wie sich
der Kreis dieses Schicksals schließt.
    Sie dreht sich weg
und sagt, sie wolle Gläser holen.
    Ich finde sie in der
Küche, mit dem Rücken zur Wand. Sie weint reglos. Als sie mich sieht, lächelt
sie.
    Sie hat sich eine
Hand auf Mund und Nase gepresst, atmet in diese Hand.
    Gojko kommt und deckt
sie mit seinem lärmenden Körper zu.
    Sie waren lange
befreundet gewesen, bevor sie ein Paar wurden. Gingen zusammen ins Kino,
plauderten in den Bars über die Filme, die sie gesehen hatten, und über anderes
sinnloses Zeug. Über alles Übrige sprachen sie nicht, das war nicht schwer, sie
wussten ja schon alles. Es war das Schweigen, das sprach, das war schon eine
Heilung.
    Gojko hat den Grill
vorbereitet, er macht sich im Wind, der vom Meer aufsteigt, an der Glut zu
schaffen. Wir essen Fisch mit verbrannten Schuppen, die wie Rinde abfallen,
sodass nur das weiße,
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