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Das Schneemädchen (German Edition)

Das Schneemädchen (German Edition)

Titel: Das Schneemädchen (German Edition)
Autoren: Eowyn Ivey
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Konturen weicher machen. Vielleicht könnte es ein wenig Licht einfangen und in ihre Augen hineinspiegeln.
    Doch den ganzen Nachmittag über hingen die dünnen Wolken hoch am Himmel, der Wind riss abgestorbene Blätter von den Ästen, und das Tageslicht flackerte wie eine Kerze. Mabel dachte an die entsetzliche Kälte, die sie allein ins Haus einsperren würde, und ihr Atem wurde flach und schnell. Sie stand auf, ging hin und her. Leise wiederholte sie: «Ich kann das nicht. Ich kann das nicht.»
    Es gab Waffen im Haus, und die hatte sie auch schon in Erwägung gezogen. Das Jagdgewehr neben dem Bücherbord, die Schrotflinte über der Tür und einen Revolver, den Jack in der oberen Kommodenschublade aufbewahrte. Sie hatte nie damit geschossen, aber das war es nicht, was sie zurückhielt. Es war das Gewaltsame und unangebracht Blutige einer solchen Tat und die Anwürfe, die sie unweigerlich nach sich ziehen würde. Die Leute würden sagen, sie sei geistesschwach oder von Sinnen gewesen, oder Jack sei ein schlechter Ehemann. Und was würde aus Jack? Wie viel Scham und Wut würde er empfinden?
    Der Fluss dagegen – das war etwas anderes. Keiner Menschenseele wäre ein Vorwurf zu machen, nicht einmal ihrer eigenen. Es wäre ein unglücklicher falscher Schritt. Die Leute würden sagen, hätte sie doch nur gewusst, dass das Eis sie nicht trägt. Hätte sie doch nur um seine Gefahren gewusst.

    Der Nachmittag ging in die Abenddämmerung über, und Mabel trat vom Fenster, um eine Öllampe auf dem Tisch anzuzünden, ganz so, als werde sie das Abendessen bereiten und auf Jacks Rückkehr warten, als werde dieser Tag enden wie alle anderen, doch im Geiste folgte sie schon dem Pfad durch den Wald zum Wolverine River. Als die Lampe brannte, schnürte sie sich die Lederstiefel zu, zog den Wintermantel über das Hauskleid und trat nach draußen. Ihre bloßen Hände und ihr Kopf blieben dem Wind ausgesetzt.
    Auf ihrem Weg durch den kahlen Wald war sie zugleich euphorisch und gefühllos, beherrscht von der Klarheit ihres Vorhabens. Sie dachte nicht an das, was sie zurückließ, sondern nahm in großer Schärfe, wie in Schwarzweiß, nur diesen einen Moment wahr. Den schweren Tritt ihrer Stiefel auf der gefrorenen Erde. Den eisigen Wind in ihren Haaren. Ihre tiefe Atmung. Sie war seltsam stark und zuversichtlich.
    Sie trat aus dem Wald und blieb am Ufer des zugefrorenen Flusses stehen. Es war ruhig bis auf einen gelegentlichen Windstoß, der ihr den Rock an die Wollstrümpfe wehte und Treibsand übers Eis wirbelte. Flussaufwärts verbreiterte sich das vom Gletscher gespeiste Tal mit Kiesbänken, Treibholz und verschlungenen flachen Wasserläufen auf achthundert Meter, hier aber war der Fluss schmal und tief. Mabel konnte die Schieferklippe auf der anderen Seite sehen, die in schwarzes Eis abfiel. Das Wasser darunter würde ihr weit über den Kopf reichen.
    Die Klippe setzte sie sich als Ziel, obwohl sie vermutlich ertrinken würde, bevor sie sie erreichte. Das Eis war keine fünf Zentimeter dick, doch selbst im tiefsten Winter würde niemand wagen, es an dieser tückischen Stelle zu überqueren.
    Zuerst verfingen sich ihre Stiefel an Gesteinsbrocken, die im sandigen Boden festgefroren waren, dann aber stolperte sie das Steilufer hinunter und überquerte ein schmales Rinnsal, auf dem das Eis dünn und brüchig war. Sie brach mit jedem zweiten Schritt ein und trat auf trockenen Sand. Danach überquerte sie eine Kiesbank und raffte den Rock, um über ein Stück Treibholz zu steigen, das die Elemente gebleicht hatten.
    Als sie zum Hauptarm des Flusses gelangte, durch den noch Wasser ins Tal strömte, war das Eis nicht mehr brüchig und weiß, sondern schwarz und elastisch, als habe es sich erst am Vorabend gebildet. Sie schob ihre Stiefelsohlen auf die Fläche und hätte fast über ihr absurdes Verhalten gelacht: sich vorzusehen, um ja nicht auszurutschen, wo sie doch darum betete, einzubrechen.
    Wenige Schritte von festem Grund entfernt blieb sie stehen und schaute zwischen ihren Stiefeln nach unten. Es war, als ginge sie auf Glas. Sie konnte die Granitbrocken unter dem fließenden, tief türkisgrünen Wasser sehen. Ein vergilbtes Blatt glitt vorüber, und sie stellte sich vor, wie sie daneben trieb und durch das vollkommen durchsichtige Eis kurz nach oben blickte. Würde sie den Himmel sehen können, bevor sich ihre Lungen mit Wasser füllten?
    Hier und da waren handtellergroße Blasen zu weißen Kreisen gefroren, andernorts durchzogen
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