Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Schneemädchen (German Edition)

Das Schneemädchen (German Edition)

Titel: Das Schneemädchen (German Edition)
Autoren: Eowyn Ivey
Vom Netzwerk:
eingewöhnt, eher dazu geeignet, auf einem Turnierplatz zu paradieren, als zu arbeiten. Jack fürchtete, es würde ihn noch ins Grab bringen.
    Erst neulich hatte er Baumstämme von dem neuen Feld geschleppt, als das Pferd vor einem Ast scheute und Jack abwarf. Es stürmte vorwärts, und er wäre um ein Haar von dem Stamm zerquetscht worden. Seine Unterarme und Schienbeine waren aufgeschürft, und jeden Morgen tat ihm der Rücken weh.
    Und hier lag das eigentliche Problem. Es war nicht das nervöse Pferd, sondern der erschöpfte alte Mann. Die Wahrheit wand sich in seiner Magengrube wie eine unrechte Tat. Diese Arbeit war zu viel für einen Mann in seinem Alter. Er kam nicht voran, obwohl er jeden Tag so lange und so schwer schuftete, wie er nur konnte. Nach einem langen Sommer und einem schneefreien Herbst hatte er nicht annähernd genug Land gerodet, um davon leben zu können. Er hatte in diesem Jahr von einem kleinen Feld eine klägliche Kartoffelernte eingebracht, für die kaum mehr zu bekommen war als Mehl für den Winter. Er hatte ausgerechnet, dass ihnen von dem Verkauf seines Anteils an der Farm zu Hause im Osten genug Geld für ein weiteres Jahr blieb, aber nur, wenn Mabel fortlaufend ihre Kuchen in der Stadt verkaufte.
    Auch das war nicht recht, dass Mabel die rauen Fußböden selbst schrubbte und nebenbei Gebäck verkaufte. Wie anders ihr Leben hätte verlaufen können. Als Tochter eines Literaturprofessors aus privilegierter Familie hätte sie Literatur und Kunst studieren und die Nachmittage in Gesellschaft anderer feinsinniger Damen verbringen können. Mit Personal, Teetassen aus Porzellan und Petits Fours, die andere gebacken hatten.
    Am Ende eines halb gerodeten Feldes zuckte das Pferd wieder zusammen, warf den Kopf zurück und schnaubte. Jack zog die Zügel an. Blinzelnd betrachtete er die gefällten Bäume ringsum und dahinter die aufrechten Birken, Fichten und Pappeln. Der Wald stand schweigend, nicht ein einziger Vogel zwitscherte. Das Pferd stampfte mit einem Huf auf die harte Erde und hielt dann still. Jack versuchte, ruhiger zu atmen, um sehen und hören zu können. Etwas beobachtete ihn.
    Ein lächerlicher Gedanke. Wer sollte schon da draußen sein? Er fragte sich nicht zum ersten Mal, ob wilde Tiere einem dieses Gefühl geben konnten. Dumme Geschöpfe wie Kühe und Hühner konnten einem Mann den ganzen Tag auf den Rücken starren, ohne dass es ihn im Nacken kribbelte. Aber vielleicht waren Waldtiere anders. Er versuchte sich vorzustellen, wie ein Bär durch den Wald tappte, auf und ab, und dabei ihn und das Pferd beäugte. Kam ihm wenig wahrscheinlich vor, da der Winter so nah war. Bären suchten sich jetzt Höhlen.
    Hier und da blieb sein Blick an einem Baumstumpf oder einer schattigen Stelle zwischen den Bäumen hängen. Lass gut sein, alter Mann, sagte er sich. Du machst dich noch verrückt, wenn du dauernd Ausschau hältst nach etwas, das gar nicht da ist.
    Er wollte gerade die Zügel schütteln, blickte aber doch noch ein letztes Mal über die Schulter, da sah er es – eine blitzschnelle Bewegung, einen braunroten Schemen. Das Pferd schnaubte. Langsam drehte Jack sich auf dem Wagensitz um.
    Ein Rotfuchs schnürte zwischen den gefällten Bäumen umher. Er verschwand kurz, tauchte plötzlich wieder auf, näher am Wald, rannte, die buschige rote Lunte tief am Boden. Er blieb stehen und wandte den Kopf. Einen Moment lang traf sich sein Blick mit Jacks, und darin, in der verengten goldenen Iris, sah Jack die Wildheit dieses Landstrichs. Als würde er der Wildnis selbst direkt ins Auge schauen.
    Er blickte wieder nach vorn, schüttelte die Zügel und ließ das Pferd traben; beide waren begierig, den Fuchs hinter sich zu lassen. Die nächste Stunde rumpelte er mit dem Wagen zusammengekauert und frierend kilometerweit durch unberührten Wald. Als er sich der Stadt näherte, beschleunigte das Pferd seine Schritte, und Jack musste es zügeln, damit die Kiste nicht vom Wagen stürzte.

    Zu Hause würde man Alpine nicht als Stadt bezeichnet haben. Es bestand nur aus wenigen staubbedeckten Häusern mit falschen Fassaden, die sich zwischen die Bahngleise und den Wolverine River duckten. In der Nähe hatten einige Siedler den Grund gerodet und ihn dann verlassen. Manche waren fortgegangen, um Gold zu waschen oder bei der Eisenbahn zu arbeiten, aber die meisten waren nach Hause geflohen, ohne die Absicht, jemals nach Alaska zurückzukehren.
    Jack trug die Kiste mit den Kuchen zur Hotelgaststätte. Die
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher