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Das Schneemädchen (German Edition)

Das Schneemädchen (German Edition)

Titel: Das Schneemädchen (German Edition)
Autoren: Eowyn Ivey
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lange Risse das Eis. Sie fragte sich, ob es an diesen Stellen brüchiger war und ob sie sie betreten oder meiden sollte. Sie straffte die Schultern, blickte geradeaus und ging weiter, ohne nach unten zu schauen.
    Als sie die Mitte des Flusslaufes überquerte, schien sie auf Armeslänge an die Klippenwand heranzureichen, das Wasser toste gedämpft, und das Eis unter ihr gab ein wenig nach. Wider Willen blickte sie nach unten, und was sie sah, erschreckte sie. Keine Blasen. Keine Risse. Nur bodenlose Schwärze, als habe sie den Nachthimmel unter den Stiefeln. Sie verlagerte ihr Gewicht, um noch einen Schritt auf die Klippe zuzugehen, da ertönte ein Knall, ein lautes, hallendes Ploppen wie beim Entkorken einer Sektflasche. Mabel spreizte die Zehen, ihre Knie zitterten. Sie wartete darauf, dass das Eis nachgab, ihr Körper in den Fluss stürzte. Dann gab es einen erneuten Knall, und sie war überzeugt, dass das Eis unter ihren Stiefeln absackte, aber millimeterweise, nahezu unmerklich bis auf das entsetzliche Geräusch.
    Sie wartete und atmete, und das Wasser kam nicht. Das Eis trug sie. Sie schob die Füße langsam vorwärts, zuerst einen, dann den anderen, ein ums andere Mal, ein langsames Schlurfen, bis sie dort stand, wo das Eis an die Klippe stieß. Sie hatte sich nie vorgestellt, einmal hier zu sein, auf der anderen Seite des Flusses. Sie drückte die bloßen Hände, dann der Länge nach den ganzen Körper an den kalten Schiefer, bis ihre Stirn an das Gestein gepresst war und sie es riechen konnte, alt und feucht.
    Allmählich durchdrang die Kälte sie, darum ließ sie die Arme sinken, wandte sich von der Klippe ab und trat denselben Weg zurück an, den sie gekommen war. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Ihre Beine waren wackelig. Würde sie jetzt, da sie auf dem Nachhauseweg war, zum Tod durchbrechen?
    Als sie sich festem Boden näherte, wäre sie am liebsten das letzte Stück gerannt, doch das Eis war zu glatt, deshalb schlitterte sie wie beim Schlittschuhlaufen und stolperte dann die Böschung hinauf. Sie keuchte und hustete und lachte beinahe, als sei alles eine alberne, verrückte Mutprobe gewesen. Dann stützte sie die Hände auf die Oberschenkel und bemühte sich nach vorn gebeugt, zur Ruhe zu kommen.
    Als sie sich langsam aufrichtete, lag das Land unendlich weit vor ihr. Die Sonne sank über dem Fluss und warf einen kalten rosa Schein auf die weiß bemützten Berge, die das Tal zu beiden Seiten einrahmten. Flussaufwärts erstreckten sich Weidengestrüpp und Kiesbänke, Fichtenwälder und in den Niederungen Pappelhaine stahlblau bis hin zu den Bergen. Keine Felder oder Zäune, Häuser oder Straßen; nicht ein einziges Lebewesen, so weit sie sehen konnte. Nur Wildnis.
    Sie war schön, das war Mabel bewusst, aber von einer Schönheit, die einen aufriss und blankscheuerte, sodass man hilflos und schutzlos war, sofern man überhaupt am Leben blieb. Mabel kehrte dem Fluss den Rücken zu und ging nach Hause.

    Die Lampe brannte noch, als sie zurückkam; das Küchenfenster leuchtete, und als sie die Tür öffnete und hineinging, umfingen sie Wärme und flackerndes Licht. Alles war ungewohnt und golden. Sie hatte nicht damit gerechnet, hierher zurückzukehren.
    Sie hatte das Gefühl, Stunden fort gewesen zu sein, aber es war nicht einmal sechs Uhr abends, und Jack war noch nicht zu Hause. Sie zog den Mantel aus, trat an den Holzofen und ließ die Hitze schmerzhaft in Hände und Füße dringen. Sobald sie die Finger öffnen und schließen konnte, holte sie Töpfe und Tiegel hervor, verwundert, dass sie zu einer so profanen Verrichtung fähig war. Sie legte Holz nach, kochte das Abendessen und setzte sich dann aufrecht an den klobigen Tisch, die Hände im Schoß gefaltet. Minuten später kam Jack zur Tür herein, stampfte den Schmutz von den Stiefeln und wischte Stroh von seinem Wollmantel.
    Überzeugt davon, dass er irgendwie wusste, was sie überlebt hatte, beobachtete sie ihn und wartete. Er wusch sich die Hände im Spülstein, setzte sich ihr gegenüber und senkte den Kopf.
    «Herr, segne dieses Mahl», murmelte er. «Amen.»
    Sie legte auf jeden Teller eine Kartoffel, dazu gekochte Möhren und rote Bohnen. Keiner von beiden sprach. Nur das Kratzen von Messern und Gabeln war zu hören. Mabel versuchte zu essen, konnte sich aber nicht überwinden. Die Wörter lagen wie Granitbrocken in ihrem Schoß, und als sie schließlich sprach, war jedes einzelne so schwer und beladen, dass sie es eben noch zustande
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